U19-WM 2021: Ein abschlie­ßen­der Blick auf die Kampfurteile

394 Kampfentscheidungen im Turnierverlauf

Die Welt­meis­ter­schaft der Jugend (Alters­klas­se U19) in Polen ist zu Ende gegan­gen. Im Rah­men des Tur­niers hat­ten 414 Sport­le­rin­nen und Sport­ler aus 52 teil­neh­men­den Natio­nen den Weg in das pol­ni­sche Kiel­ce angetreten.

274 Män­ner und 140 Frau­en kämpf­ten in jeweils 10 Gewichts­klas­sen um Medail­len. 394 Kampf­ent­schei­dun­gen muss­ten an den ins­ge­samt 10 Wett­kampf­ta­gen fal­len, bis die Plät­ze auf den Sie­ger­po­des­ten aus­ge­boxt waren.

An die­ser Stel­le sol­len nach Abschluss des Wett­be­werbs die Kamp­fur­tei­le in der Gesamt­schau betrach­tet werden.

Abb. oben: Erwar­tungs­ge­mäß fie­len die meis­ten Ent­schei­dun­gen in Kiel­ce nach Punk­ten (WP).

Die Wett­kampf­be­stim­mun­gen ken­nen ins­ge­samt 9 Kampf­ent­schei­dun­gen. Das »Unent­schie­den« als eine die­ser Kampf­ent­schei­dun­gen ist bei Tur­nie­ren per defin­tio­nem aus­ge­schlos­sen, weil damit nicht ent­schie­den wer­den könn­te, wer in die nächs­te Tur­nier­run­de vor­rü­cken darf und wer nicht. Soll­te sich bei Tur­nie­ren aus den zusam­men­ge­rech­ne­ten Ein­zel­wer­tun­gen der Punkt­rich­ter ein »Unent­schie­den« erge­ben, wer­den die Punkt­rich­ter zur erneu­ten Wer­tung auf­ge­for­dert, bei der sie sich dann zwi­schen Rot und Blau ent­schei­den müssen.

Der »Abbruch ohne Ent­schei­dung« (ein wei­te­res sel­te­nes, aber im Nor­mal­be­trieb mög­li­ches Urteil) ist bei Tur­nie­ren in der Pra­xis eben­so­we­nig mög­lich, da auch hier kein Sie­ger ermit­telt wür­de. Es blei­ben also 7 Ent­schei­dun­gen übrig, von denen bei die­ser zurück­lie­gen­den Welt­meis­ter­schaft 6 zur Anwen­dung kamen. Allein die Auf­ga­be (ABD abge­kürzt) ist nicht ver­tre­ten. Die Ver­tei­lung die­ser 6 Ent­schei­dun­gen (in der Abbil­dung oben in abso­lu­ten Zah­len, unten in Pro­zent­wer­ten) ent­spricht weit­ge­hend dem Bild, wie man es im olym­pi­schen Boxen kennt:

  • Es über­wie­gen ganz deut­lich die Kämp­fe, die nach Punk­ten ent­schie­den wur­den und über die vol­le Kampf­di­stanz von 3 x 3 Minu­ten gegan­gen sind: 340 der 394 Urtei­le wur­den auf die­se Wei­se ermit­telt (ent­spricht 86,29% aller Urtei­le). Dazu wei­ter unten detail­lier­te­re Informationen.
  • An zwei­ter Stel­le ste­hen die RSC-Urtei­le, also die Abbrü­che durch den Ring­rich­ter wegen der Über­le­gen­heit des Kon­tra­hen­ten. Auf RSC muss zwin­gend immer dann ent­schie­den wer­den, wenn im Lau­fe des Kamp­fes die maxi­mal zuläs­si­ge Anzahl des Anzäh­lens erreicht wur­de (in der Alters­klas­se U19 bei bei­den Geschlech­tern das 3. Anzäh­len im Ver­lauf einer Run­de oder das 4. Anzäh­len im Ver­lauf des Kamp­fes). Ein Ring­rich­ter kann aber zum Schutz des Sport­lers auch schon vor­her auf RSC ent­schei­den. 36 der 394 Urtei­le wur­den in die­ser Wei­se vor­zei­tig ent­schie­den (ent­spricht 9,14%).
  • An drit­ter Stel­le fin­den sich Wal­ko­ver-Ent­schei­dun­gen. Hier trat der zum Kampf auf­ge­ru­fe­ne Geg­ner gar nicht erst zum Ver­gleich an. Die­ses für Tur­nie­re typi­sche Urteil ent­steht in der Regel dann, wenn ein Sport­ler sei­nen vor­an­ge­gan­ge­nen Tur­nier­kampf zwar gewin­nen konn­te (und sich damit für die dar­auf­fol­gen­de Run­de qua­li­fi­ziert hat), aber in dem zurück­lie­gen­den Kampf eine Ver­let­zung erlit­ten hat, die einen nächs­ten Kampf nun nicht mehr erlaubt.
  • Abge­schla­gen an vier­ter, fünf­ter und sechs­ter Stel­le der Urtei­le ste­hen die Kampf­ab­brü­che durch Ver­let­zung (RSC‑I, 4 Ent­schei­dun­gen), durch Nie­der­schlag (KO, 3 Ent­schei­dun­gen) und durch Dis­qua­li­fi­ka­ti­on (DISQ, 2 Ent­schei­dun­gen). Dass die­se Urtei­le sehr sel­ten fal­len, ist ein gewohn­tes Bild. Umso schwe­rer wiegt hier, dass in Polen eine der 3 KO-Ent­schei­dun­gen schwer­wie­gen­de Fol­gen für den betrof­fe­nen Sport­ler hat­te. In einem Vor­run­den­kampf der Gewichts­klas­se bis 81 kg ging der betref­fen­de Boxer in der letz­ten Minu­te der 3. Run­de zu Boden und ver­lor das Bewusst­sein. Im Kran­ken­haus wur­de zur Sta­bi­li­sie­rung sei­nes Zustan­des ein neu­ro­chir­ur­gi­scher Engriff erforderlich.

Ver­gleichs­wei­se vie­le RSC-Entscheidungen

Ver­gleicht man die Zahl der RSC-Ent­schei­dun­gen die­ser U19-WM mit der zurück­lie­gen­den WM der erwach­se­nen Män­ner 2019 in Eka­ta­rin­burg (Russ­land), so fällt hier eine gewis­se Häu­fung auf: In Eka­ta­rin­burg fie­len nur 3,6 Pro­zent der Ent­schei­dun­gen auf die­se Wei­se, jetzt in Polen waren es immer­hin doch 9,14 Pro­zent. Die bei­den Geschlech­ter unter­schei­den sich hier trotz der ver­gleichs­wei­se hohen Gesamt­zahl jedoch nicht auf­fäl­lig: Bei den Frau­en fie­len 10 Pro­zent der Ent­schei­dun­gen durch RSC, bei den Män­nern waren es 8,71 Prozent.

Der ver­gleichs­wei­se hohe Anteil an RSC-Ent­schei­dun­gen könn­te damit erklär­bar sein, dass in einem Tur­nier der Nach­wuchs­al­ters­klas­sen (zu denen die Alters­klas­se U19 noch zählt) der boxe­ri­sche Aus­bil­dungs- und Erfah­rungs­stand der Kon­tra­hen­ten noch wei­ter aus­ein­an­der lie­gen kann als man es von Erwach­se­nen­al­ters­klas­sen her kennt. Dies betrifft vor allem auch Sport­le­rin­nen und Sport­ler in Gewichts­klas­sen, die sel­te­ner ver­tre­ten sind, und in denen es daher schwie­ri­ger ist, Kampf­erfah­rung zu sammeln.

Tref­fen deut­lich unter­schied­li­che sport­li­che Niveaus auf­ein­an­der, könn­ten Ring­rich­ter öfter zur RSC-Ent­schei­dung kom­men, da im Nach­wuchs­be­reich bei Ring­rich­ter­ent­schei­dun­gen der Schutz der Sport­ler stets einen beson­de­ren Stel­len­wert ein­nimmt. Die­ser Erklä­rungs­an­satz bekommt zumin­dest im Bereich der Frau­en­kämp­fe die­ser WM eine gewis­se Plau­si­bi­li­tät, da sich hier in den drei obers­ten Gewichts­klas­sen RSC-Ent­schei­dun­gen über­durch­schnitt­lich ver­tre­ten finden.

KO-Ent­schei­dun­gen aus­schließ­lich bei Männern

Der nähe­re Blick auf die drei KO-Ent­schei­dun­gen zeigt: Sie kamen aus­schließ­lich bei den Män­nern vor – und da auch eher im obe­ren Spek­trum der Gewichts­klas­sen. Die Urtei­le durch Nie­der­schlag fie­len ein­mal im Wel­ter­ge­wicht (bis 69 kg), ein­mal im Halb­schwer­ge­wicht (bis 81 kg) und ein­mal im Super­schwer­ge­wicht (über 91 kg). Hier dürf­te die in den höhe­ren Gewichts­klas­sen wach­sen­de Schlag­kraft eine Erklä­rung sein. Wie oben bereits erwähnt, hat­te ein Nie­der­schlag lei­der auch gra­vie­ren­de Fol­gen für den Sportler.

Alle Wal­ko­ver-Ent­schei­dun­gen bereits vor dem ers­ten Kampf

Inter­es­sant ist schließ­lich die Ana­ly­se der Wal­ko­ver-Ent­schei­dun­gen. Sie lie­gen mit 7 Urtei­len ins­ge­samt zwar nicht auf­fäl­lig hoch und ver­tei­len sich ange­sichts der unter­schied­li­chen Teil­neh­mer­zah­len – also rela­tiv betrach­tet – auch unauf­fäl­lig auf bei­de Geschlech­ter (5 bei 274 Män­nern und 2 bei 140 Frau­en im Turnier).

Übli­cher­wei­se (wie wei­ter oben erläu­tert) steigt das Risi­ko von ver­let­zungs­be­ding­ten Wal­ko­ver mit dem fort­schrei­ten­den Ver­lauf des Tur­niers. Doch bei der zurück­lie­gen­den U19-WM waren aus­schließ­lich ers­te Kämp­fe des Tur­nier­ver­laufs von Wal­ko­ver-Ent­schei­dun­gen betrof­fen: In den betref­fen­den Fäl­len tra­ten Kämp­fer oder Kämp­fe­rin­nen also gar nicht erst in das Tur­nier ein.

Dies ist eine über­ra­schend hohe Zahl. Zum Ver­gleich: Bei der zurück­lie­gen­den WM 2019 der Män­ner in Russ­land kam es bei 365 teil­nehm­den Ath­le­ten nur zwei­mal vor, dass Boxer zu sei­nem ers­ten Kampf gar nicht erst im Ring erschien.

Eine wei­te­re Auf­fäl­lig­keit: Fünf mal waren es in Kiel­ce Sport­le­rin­nen und Sport­ler aus Japan, die gar nicht erst antra­ten. Damit fiel für mehr als die Hälf­te des 9 Ath­le­tin­nen und Ath­le­ten umfas­sen­den japa­ni­schen Teams die WM aus. Zwei­mal betraf es Sport­ler aus Marok­ko und jeweils ein­mal Ath­le­ten aus Usbe­ki­stan und Ecua­dor. Hier kann man an die­ser Stel­le nur spe­ku­lie­ren, aber ange­sichts der Coro­na-Pan­de­mie steht bei sol­chen Auf­fäl­lig­kei­ten natür­lich die Mög­lich­keit im Raum, dass posi­ti­ve Tes­tun­gen der Hin­ter­grund sein könnten.

Abb. oben: Die Antei­le der 6 aus­ge­spro­che­nen Ent­schei­dun­gen an allen Ent­schei­dun­gen in Prozent.

Die Punk­tur­tei­le im genaue­ren Blick

Super­vi­so­ren bzw. R&J‑Evaluatoren freu­en sich immer über einen hohen Anteil ein­stim­mi­ger Punk­tur­tei­le als Qua­li­täts­nach­weis der ein­ge­setz­ten Punkt­rich­ter. Denn schließ­lich bie­ten sie unterm Strich den gerings­ten Anlass für Zwei­fel am Urteil oder gar an der Unpar­tei­lich­keit der Kampf­rich­ter. In Kiel­ce fie­len 222 der 340 Punk­tur­tei­le ein­stim­mig aus, also mit 5:0 Punkt­rich­ter­stim­men. Dies ent­spricht einem Pro­zenz­satz von 65,29 Pro­zent. Im Ver­gleich zur WM der Män­ner 2019 in Eka­ta­rin­burg bedeu­tet dies eine leich­te Ver­bes­se­rung. Dort ent­schie­den die Punkt­rich­ter in rund 61,3 Pro­zent der Fäl­le einstimmig.

Abb. oben: Die ein­stim­mi­ge Punkt­ent­schei­dung, bei der alle 5 Punkt­rich­ter den­sel­ben Sport­ler als Gewin­ner ermit­telt haben, wird von den R&J‑Evaluatoren als ide­al gese­hen und war auch bei der WM in Polen mit Abstand die häu­figs­te Entscheidung.

Weni­ger gern gese­hen sind die 4:1- oder 4:0‑Urteile, da hier nur einer der Punkt­rich­ter abwei­chend ent­schei­det. (Bei 4:0‑Urteilen steht die 0 übri­gens für eine Unent­schie­den-Wer­tung eines ein­zel­nen Punkt­rich­ters. Ein Sie­ger kann den­noch ermit­telt wer­den, weil sich ja – wie auch bei einem 3:0‑Urteil – eine Mehr­heit der Punkt­rich­ter für einen der bei­den Sport­ler ent­schie­den hat.) Bei der zu Ende gegan­ge­nen WM waren 70 der 340 Punkt­wer­tun­gen so, dass einer der Unpar­tei­ischen zu einer abwei­chen­den Wer­tung kam. Dies ent­spricht etwa 20,6 Pro­zent der Punk­tur­tei­le. Der Ver­gleich zur WM der Män­ner 2019 in Eka­ta­rin­burg ergibt, dass die­ser Anteil prak­tisch gleich geblie­ben ist. In Russ­land  ende­ten rund 21,1 Pro­zent der Punkt­wer­tun­gen mir 4:1- oder 4:0‑Urteilen.

3:2- oder 3:1‑Urteile sind eben­falls nicht all­zu ger­ne gese­hen, aber bei knap­pen Kämp­fen manch­mal auch ein­fach nur unver­meid­li­cher Aus­druck eines schwer zu wer­ten­den Kamp­fes, bei dem es für bei­de Kon­tra­hen­ten gute Argu­men­te gab. (Bei 3:1‑Urteilen gibt es übri­gens drei gleich­lau­ten­de Ein­zel­wer­tun­gen und jeweils ein Unent­schei­den sowie ein Urteil, dass den letzt­lich Unter­le­ge­nen als Sie­ger sah.) Sie ste­hen weni­ger stark im Fokus der Super­vi­so­ren bzw. R&J‑Evaluatoren als 4:1- oder 4:0‑Entscheidungen. 3:2- bzw. 3:1‑Urteile wur­den bei der Jugend-WM in 44 Fäl­len gefällt. Dies ent­spricht einem Anteil von gut 12,9 Prozent.

Abb. oben: Die Antei­le der ver­schie­de­nen Punk­tur­tei­le an allen Punkt­wer­tun­gen in Prozent.

Bekannt­ga­be der Zwi­schen­er­geb­nis­se mit bele­ben­dem Effekt

Bei die­ser Welt­meis­ter­schaft wur­de wie­der auf­ge­grif­fen, was es in der Ver­gan­gen­heit schon ein­mal gege­ben hat­te: Die ein­zel­nen Run­den­ent­schei­dun­gen wur­den in den bei­den Run­den­pau­sen über an den Rin­ge­cken auf­ge­stell­te Moni­to­re den Trai­nern und damit den Kämp­fe­rin­nen und Kämp­fern bekannt gege­ben. Dies war  als Trans­pa­renz- und Qua­li­täts­of­fen­si­ve der oft kri­ti­sier­ten Kampf­rich­ter­leis­tun­gen gedacht, hat­te aber dar­über hin­aus durch­aus auch einen bele­ben­den Effekt auf das Wett­kampf­ge­sche­hen. Man sah in nicht weni­gen Gefech­ten tak­ti­sche Umstel­lun­gen, die womög­lich aus­ge­blie­ben wären, wenn die Zwi­schen­er­geb­nis­se unbe­kannt geblie­ben wären. Der Span­nung und Qua­li­tät der Wett­kampf­leis­tung war dies dienlich.

Abb. oben: Der Anteil vor­zei­ti­ger Sie­ge (RSC, RSC‑I, WO, KO, DISQ) an den Kamp­fur­tei­len in Pro­zent. Die Abwei­chun­gen zwi­schen Frau­en und Män­nern blei­ben im über­schau­ba­ren Rah­men. Aller­dings: KO-Sie­ge gab es nur bei den Männern.

Die Spon­so­ren der Box­ab­tei­lung des FC St. Pauli: