Die Weltmeisterschaft der Jugend (Altersklasse U19) in Polen ist zu Ende gegangen. Im Rahmen des Turniers hatten 414 Sportlerinnen und Sportler aus 52 teilnehmenden Nationen den Weg in das polnische Kielce angetreten.
274 Männer und 140 Frauen kämpften in jeweils 10 Gewichtsklassen um Medaillen. 394 Kampfentscheidungen mussten an den insgesamt 10 Wettkampftagen fallen, bis die Plätze auf den Siegerpodesten ausgeboxt waren.
An dieser Stelle sollen nach Abschluss des Wettbewerbs die Kampfurteile in der Gesamtschau betrachtet werden.
Die Wettkampfbestimmungen kennen insgesamt 9 Kampfentscheidungen. Das »Unentschieden« als eine dieser Kampfentscheidungen ist bei Turnieren per defintionem ausgeschlossen, weil damit nicht entschieden werden könnte, wer in die nächste Turnierrunde vorrücken darf und wer nicht. Sollte sich bei Turnieren aus den zusammengerechneten Einzelwertungen der Punktrichter ein »Unentschieden« ergeben, werden die Punktrichter zur erneuten Wertung aufgefordert, bei der sie sich dann zwischen Rot und Blau entscheiden müssen.
Der »Abbruch ohne Entscheidung« (ein weiteres seltenes, aber im Normalbetrieb mögliches Urteil) ist bei Turnieren in der Praxis ebensowenig möglich, da auch hier kein Sieger ermittelt würde. Es bleiben also 7 Entscheidungen übrig, von denen bei dieser zurückliegenden Weltmeisterschaft 6 zur Anwendung kamen. Allein die Aufgabe (ABD abgekürzt) ist nicht vertreten. Die Verteilung dieser 6 Entscheidungen (in der Abbildung oben in absoluten Zahlen, unten in Prozentwerten) entspricht weitgehend dem Bild, wie man es im olympischen Boxen kennt:
- Es überwiegen ganz deutlich die Kämpfe, die nach Punkten entschieden wurden und über die volle Kampfdistanz von 3 x 3 Minuten gegangen sind: 340 der 394 Urteile wurden auf diese Weise ermittelt (entspricht 86,29% aller Urteile). Dazu weiter unten detailliertere Informationen.
- An zweiter Stelle stehen die RSC-Urteile, also die Abbrüche durch den Ringrichter wegen der Überlegenheit des Kontrahenten. Auf RSC muss zwingend immer dann entschieden werden, wenn im Laufe des Kampfes die maximal zulässige Anzahl des Anzählens erreicht wurde (in der Altersklasse U19 bei beiden Geschlechtern das 3. Anzählen im Verlauf einer Runde oder das 4. Anzählen im Verlauf des Kampfes). Ein Ringrichter kann aber zum Schutz des Sportlers auch schon vorher auf RSC entscheiden. 36 der 394 Urteile wurden in dieser Weise vorzeitig entschieden (entspricht 9,14%).
- An dritter Stelle finden sich Walkover-Entscheidungen. Hier trat der zum Kampf aufgerufene Gegner gar nicht erst zum Vergleich an. Dieses für Turniere typische Urteil entsteht in der Regel dann, wenn ein Sportler seinen vorangegangenen Turnierkampf zwar gewinnen konnte (und sich damit für die darauffolgende Runde qualifiziert hat), aber in dem zurückliegenden Kampf eine Verletzung erlitten hat, die einen nächsten Kampf nun nicht mehr erlaubt.
- Abgeschlagen an vierter, fünfter und sechster Stelle der Urteile stehen die Kampfabbrüche durch Verletzung (RSC‑I, 4 Entscheidungen), durch Niederschlag (KO, 3 Entscheidungen) und durch Disqualifikation (DISQ, 2 Entscheidungen). Dass diese Urteile sehr selten fallen, ist ein gewohntes Bild. Umso schwerer wiegt hier, dass in Polen eine der 3 KO-Entscheidungen schwerwiegende Folgen für den betroffenen Sportler hatte. In einem Vorrundenkampf der Gewichtsklasse bis 81 kg ging der betreffende Boxer in der letzten Minute der 3. Runde zu Boden und verlor das Bewusstsein. Im Krankenhaus wurde zur Stabilisierung seines Zustandes ein neurochirurgischer Engriff erforderlich.
Vergleichsweise viele RSC-Entscheidungen
Vergleicht man die Zahl der RSC-Entscheidungen dieser U19-WM mit der zurückliegenden WM der erwachsenen Männer 2019 in Ekatarinburg (Russland), so fällt hier eine gewisse Häufung auf: In Ekatarinburg fielen nur 3,6 Prozent der Entscheidungen auf diese Weise, jetzt in Polen waren es immerhin doch 9,14 Prozent. Die beiden Geschlechter unterscheiden sich hier trotz der vergleichsweise hohen Gesamtzahl jedoch nicht auffällig: Bei den Frauen fielen 10 Prozent der Entscheidungen durch RSC, bei den Männern waren es 8,71 Prozent.
Der vergleichsweise hohe Anteil an RSC-Entscheidungen könnte damit erklärbar sein, dass in einem Turnier der Nachwuchsaltersklassen (zu denen die Altersklasse U19 noch zählt) der boxerische Ausbildungs- und Erfahrungsstand der Kontrahenten noch weiter auseinander liegen kann als man es von Erwachsenenaltersklassen her kennt. Dies betrifft vor allem auch Sportlerinnen und Sportler in Gewichtsklassen, die seltener vertreten sind, und in denen es daher schwieriger ist, Kampferfahrung zu sammeln.
Treffen deutlich unterschiedliche sportliche Niveaus aufeinander, könnten Ringrichter öfter zur RSC-Entscheidung kommen, da im Nachwuchsbereich bei Ringrichterentscheidungen der Schutz der Sportler stets einen besonderen Stellenwert einnimmt. Dieser Erklärungsansatz bekommt zumindest im Bereich der Frauenkämpfe dieser WM eine gewisse Plausibilität, da sich hier in den drei obersten Gewichtsklassen RSC-Entscheidungen überdurchschnittlich vertreten finden.
KO-Entscheidungen ausschließlich bei Männern
Der nähere Blick auf die drei KO-Entscheidungen zeigt: Sie kamen ausschließlich bei den Männern vor – und da auch eher im oberen Spektrum der Gewichtsklassen. Die Urteile durch Niederschlag fielen einmal im Weltergewicht (bis 69 kg), einmal im Halbschwergewicht (bis 81 kg) und einmal im Superschwergewicht (über 91 kg). Hier dürfte die in den höheren Gewichtsklassen wachsende Schlagkraft eine Erklärung sein. Wie oben bereits erwähnt, hatte ein Niederschlag leider auch gravierende Folgen für den Sportler.
Alle Walkover-Entscheidungen bereits vor dem ersten Kampf
Interessant ist schließlich die Analyse der Walkover-Entscheidungen. Sie liegen mit 7 Urteilen insgesamt zwar nicht auffällig hoch und verteilen sich angesichts der unterschiedlichen Teilnehmerzahlen – also relativ betrachtet – auch unauffällig auf beide Geschlechter (5 bei 274 Männern und 2 bei 140 Frauen im Turnier).
Üblicherweise (wie weiter oben erläutert) steigt das Risiko von verletzungsbedingten Walkover mit dem fortschreitenden Verlauf des Turniers. Doch bei der zurückliegenden U19-WM waren ausschließlich erste Kämpfe des Turnierverlaufs von Walkover-Entscheidungen betroffen: In den betreffenden Fällen traten Kämpfer oder Kämpferinnen also gar nicht erst in das Turnier ein.
Dies ist eine überraschend hohe Zahl. Zum Vergleich: Bei der zurückliegenden WM 2019 der Männer in Russland kam es bei 365 teilnehmden Athleten nur zweimal vor, dass Boxer zu seinem ersten Kampf gar nicht erst im Ring erschien.
Eine weitere Auffälligkeit: Fünf mal waren es in Kielce Sportlerinnen und Sportler aus Japan, die gar nicht erst antraten. Damit fiel für mehr als die Hälfte des 9 Athletinnen und Athleten umfassenden japanischen Teams die WM aus. Zweimal betraf es Sportler aus Marokko und jeweils einmal Athleten aus Usbekistan und Ecuador. Hier kann man an dieser Stelle nur spekulieren, aber angesichts der Corona-Pandemie steht bei solchen Auffälligkeiten natürlich die Möglichkeit im Raum, dass positive Testungen der Hintergrund sein könnten.
Die Punkturteile im genaueren Blick
Supervisoren bzw. R&J‑Evaluatoren freuen sich immer über einen hohen Anteil einstimmiger Punkturteile als Qualitätsnachweis der eingesetzten Punktrichter. Denn schließlich bieten sie unterm Strich den geringsten Anlass für Zweifel am Urteil oder gar an der Unparteilichkeit der Kampfrichter. In Kielce fielen 222 der 340 Punkturteile einstimmig aus, also mit 5:0 Punktrichterstimmen. Dies entspricht einem Prozenzsatz von 65,29 Prozent. Im Vergleich zur WM der Männer 2019 in Ekatarinburg bedeutet dies eine leichte Verbesserung. Dort entschieden die Punktrichter in rund 61,3 Prozent der Fälle einstimmig.
Weniger gern gesehen sind die 4:1- oder 4:0‑Urteile, da hier nur einer der Punktrichter abweichend entscheidet. (Bei 4:0‑Urteilen steht die 0 übrigens für eine Unentschieden-Wertung eines einzelnen Punktrichters. Ein Sieger kann dennoch ermittelt werden, weil sich ja – wie auch bei einem 3:0‑Urteil – eine Mehrheit der Punktrichter für einen der beiden Sportler entschieden hat.) Bei der zu Ende gegangenen WM waren 70 der 340 Punktwertungen so, dass einer der Unparteiischen zu einer abweichenden Wertung kam. Dies entspricht etwa 20,6 Prozent der Punkturteile. Der Vergleich zur WM der Männer 2019 in Ekatarinburg ergibt, dass dieser Anteil praktisch gleich geblieben ist. In Russland endeten rund 21,1 Prozent der Punktwertungen mir 4:1- oder 4:0‑Urteilen.
3:2- oder 3:1‑Urteile sind ebenfalls nicht allzu gerne gesehen, aber bei knappen Kämpfen manchmal auch einfach nur unvermeidlicher Ausdruck eines schwer zu wertenden Kampfes, bei dem es für beide Kontrahenten gute Argumente gab. (Bei 3:1‑Urteilen gibt es übrigens drei gleichlautende Einzelwertungen und jeweils ein Unentscheiden sowie ein Urteil, dass den letztlich Unterlegenen als Sieger sah.) Sie stehen weniger stark im Fokus der Supervisoren bzw. R&J‑Evaluatoren als 4:1- oder 4:0‑Entscheidungen. 3:2- bzw. 3:1‑Urteile wurden bei der Jugend-WM in 44 Fällen gefällt. Dies entspricht einem Anteil von gut 12,9 Prozent.
Bekanntgabe der Zwischenergebnisse mit belebendem Effekt
Bei dieser Weltmeisterschaft wurde wieder aufgegriffen, was es in der Vergangenheit schon einmal gegeben hatte: Die einzelnen Rundenentscheidungen wurden in den beiden Rundenpausen über an den Ringecken aufgestellte Monitore den Trainern und damit den Kämpferinnen und Kämpfern bekannt gegeben. Dies war als Transparenz- und Qualitätsoffensive der oft kritisierten Kampfrichterleistungen gedacht, hatte aber darüber hinaus durchaus auch einen belebenden Effekt auf das Wettkampfgeschehen. Man sah in nicht wenigen Gefechten taktische Umstellungen, die womöglich ausgeblieben wären, wenn die Zwischenergebnisse unbekannt geblieben wären. Der Spannung und Qualität der Wettkampfleistung war dies dienlich.