Das zu Ende gehende Jahr 2023 sah auf der internationalen Ebene des olympischen Boxens einschneidende Veränderungen: Am 22.06.2023 beschloss die Vollversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) den endgültigen Ausschluss der IBA (früher AIBA).
Seitdem ist in unserer boxsportlichen Welt nichts mehr, wie es vorher war. Auf olympischer Ebene ist das Boxen nun durch keinen Verband mehr vertreten. Das Boxturnier in Paris 2024 wird (nach 2021 in Tokyo) zum zweiten Mal hintereinander vom IOC selbst ausgerichtet.
Das soll Anlass sein, zum Jahreswechsel den Blick auf die organisatorischen Rahmenbedingungen unseres Sports zu lenken und über den Status Quo und die mittelfristige Zukunft des olympischen Boxens zu spekulieren.
Suspendierung als Ende eines langen Streites
Auf die Gründe der Suspendierung und die lange Geschichte des Zerwürfnisses zwischen der IBA und dem IOC soll an dieser Stelle nur vergleichsweise kurz eingegangen werden (eigentlich würde die Angelegenheit jedoch ein eigenes Buch füllen können).
Das IOC hatte den Weltverband des olympischen Boxens AIBA (heute IBA) bereits 2019 vorläufig suspendiert wegen
- manipulierter Kampfrichterleistungen 2016 in Rio,
- seiner Überschuldung und
- Verstößen gegen Grundsätze der Good Governance.
Die geforderten Reformen blieben aus Sicht des IOC aus oder waren nur unzureichend. Mit der Wahl des Russen Umar Kremlev zum neuen Präsidenten der AIBA (heute IBA) im Dezember 2020 verschlechterte sich das Verhältnis des inzwischen in IBA umbenannten Verbandes zum IOC abermals.
Kremlev gilt als enger Vertrauter des russischen Präsidenten Putin. Für die Finanzierung des Verbandes steht ihm seit seiner Wahl das Geld des russischen Staatskonzerns Gazprom zur Verfügung, der im Gegenzug als »Generalpartner« der IBA auftritt.
Seitdem kann der einst hoch verschuldete Verband auf großem Fuß leben und sich (sowie seinen Präsidenten) aufwendig in Szene setzen. Im olympischen Boxen hielt ein bis dahin unbekannter Glamour Einzug, der bei manchen nicht ohne Eindruck blieb. Der neue Glanz verstellte vielen in der Boxwelt allerdings den Blick auf eine durchaus kritische Entwicklung.
Den neuen Reichtum sah das IOC nämlich weniger als eine gesunde und nachhaltige Entschuldung und neue Professionalität – er ließ statt stattdessen in Lausanne die Sorge um die politische Unabhängigkeit des Verbandes aufkommen. Aus Sicht des IOC ging es mit Kremlev vom Regen in die Traufe – wenn nicht noch schlimmer.
Das Video unten von der aufwendig inszenierten Eröffnungsfeier der WM 2021 in Belgrad zeigt: Die IBA lässt die Puppen tanzen. Der neue Glamour und Glitter wirkte auf viele in der olympischen Boxwelt wie Balsam und Opium zugleich: Er tut der olympischen Boxerseele gut, die sich (verständlicherweise) immer unter Wert dargestellt sieht. Und er lässt bis jetzt viele noch glauben, dass solche Inszenierungen des Reichtums für eine sichere Zukunft des Boxsports stehen.
IBA wurde Werkzeug russischer Politik
Die Befürchtung, dass die von Kremlev geführte IBA unter den Einfluss des russischen Staates geraten sein könne, bestätigte sich in den Augen des IOC nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine: Als erster (damals noch) olympischer Weltverband scherte die IBA aus der Linie des IOC aus und ließ russische sowie weißrussische Sportlerinnen und Sportler sowie Offizielle ohne jede Einschränkungen wieder zu ihren Turnieren zu.
Dazu kam ein zuletzt zunehmend aggressiver und pöbelnder Tonfall in der Kommunikation mit dem IOC sowie eine provozierende Desinformationsstrategie. So stiftete die IBA beispielsweise Verwirrung, indem sie einen eigenen Qualifikationsweg zu den Olympischen Spielen in Paris veröffentlichte – dabei wohl wissend, dass sie mit den Spielen und den vorgeschalteten Qualifikationsturnieren rein gar nichts zu tun haben würde.
All dies (sowie überdies unzulässige Ausbootungen und Kaltstellungen von Gegenkandidaten bei IBA-Kongressen) mündete dann – am Ende wenig überraschend – schlussendlich in die im Juni 2023 mit großer Mehrheit beschlossene endgültige Suspendierung des unliebsamen Boxverbandes.
Die IBA wehrt sich aktuell beim Internationalen Sportgerichtshof CAS gegen die endgültige Suspendierung. Eine Entscheidung wird 2024 erwartet. Allerdings werden dem Verband dabei keine großen Erfolgsaussichten eingeräumt. Sollte der CAS die Entscheidung des IOC erwartungsgemäß bestätigen, will die IBA in dieser Sache anschließend noch vor ordentlichen schweizerischen Gerichten prozessieren.
Gründung von World Boxing
Der stetig eskalierende Konflikt zwischen der IBA und dem IOC hatte bei einer Reihe von Nationalverbänden (schon vor der endgültigen Suspendierung) zu der Einschätzung geführt, dass es mit dem alten Verband keine olympische Zukunft des Boxsports mehr geben werde.
Aus diesen Erwägungen heraus gründete eine Handvoll von Personen und Verbänden im April 2023 den neuen Weltverband »World Boxing«. Das Ziel des neuen Verbandes ist es, die Anerkennung durch das IOC zu erlangen und damit die Zukunft des Boxens als olympische Sportart zu sichern. Im November wurde mit einem Gründungskongress in Frankfurt am Main aus dem provisorischen Verband eine reguläre Körperschaft mit einer Satzung und gewählten Amtsträgern.
Dem neuen Verband gehören aktuell 27 nationale Boxverbände als Mitglieder an. Zwar sind alle Kontinente vertreten, aber es ist nicht zu leugnen, dass bislang noch eher westlich orientierte Nationen aus Europa und Amerika den Schwerpunkt bilden – eine unmittelbare Folge der politischen Einflussnahme Russlands auf die IBA.
Die IBA schließt eine doppelte Mitgliedschaft kategorisch aus. Mitgliedsverbände, die bei der Gründung des neuen Weltverbandes besonders engagiert waren, sind inzwischen ausgeschlossen worden. So unlängst unter anderem auch der Deutsche Boxsport-Verband (DBV). Andere, wie z.B. die USA und Brasilien, waren zuvor schon selbst ausgetreten. Für 2024 ist zu erwarten, dass die IBA weitere Mitglieder ausschließen wird, die in den letzten Monaten und Wochen World Boxing beigetreten sind. Entsprechende Verfahren wurden jedenfalls angekündigt.
Störfeuer der IBA
Was sind nun die wahrscheinlichen Entwicklungen der Zukunft? Nach dem Ausschluss der IBA durch das IOC stellte sich für einen kurzen Moment die Frage, ob Russland weiterhin einen Verband großzügig mit Geld ausstatten würde, der gezwungen wurde, von der wichtigen internationalen Bühne des olympischen Sports abzutreten.
Diese Frage ist (zumindest für den Moment) mit einem klaren »Ja« zu beantworten. Die russischen Petrorubel des Staatskonzerns Gazprom fließen erst einmal weiter und halten die IBA über Wasser. Das Bling-Bling im neureichen Oligarchen-Stil findet einstweilen also seine Fortsetzung.
Warum aber investiert Russland immer noch in die IBA, wo dieser Verband doch mit den Olympischen Spielen nichts mehr zu tun hat? Der Grund mag darin liegen, dass ein finanziell potenter Verband immer noch als Instrument der Obstruktion und Destruktion dienen und insofern weiterhin Einfluss auf die Sportpolitik nehmen kann.
Ohne jede olympische Perspektive wendet sich die IBA zwar anscheinend immer mehr dem Spektakel zu, wie man es vom »professionellen« Kampfsport kennt und etabliert (etwa mit den »Champion’s Nights«) entsprechende Wettkampfformate. Das Video unten zeigt, in welche Richtung sich die IBA künftig entwickeln könnte: Der »UFC-Star« Conor McGregor darf sich bei der »IBA Champion’s Night« in Dubai Mitte Dezember in Szene setzen. Traditionalisten des olympischen Boxens wird es da die Fingernägel aufrollen.
Auf der anderen Seite betreibt die IBA das olympische Boxen einstweilen weiter und kann nach wie vor durch aufwendig inszenierte und mit Preisgeldern ausgestatteten Turnieren sowie einem gefüllten Wettkampfkalender viele nationale Boxverbände exklusiv an sich binden. Im Vergleich dazu bietet World Boxing im Moment noch wenig Wettkampfmöglichkeiten.
Für die IBA ist die aktuelle Lage durchaus noch komfortabel, denn Verbände, die ihr wegen der Wettkampfpotionen und Preisgelder derzeit noch treu bleiben, müssen für ihren Verbleib im Verband im Moment keine Nachteile in Kauf nehmen. Obschon sie dem ungeliebten Verband angehören, behalten sie vorerst die olympische Perspektive. Denn solange das IOC in Ermangelung eines anerkannten Weltverbandes das olympische Boxturnier und die Qualifikationswettbewerbe selbst ausrichtet, muss es sich für alle Boxer*innen gleichermaßen offen halten – egal ob sie nun der IBA oder World Boxing angeschlossen sind.
Für die Fortentwicklung von World Boxing stellen die aktuellen Umstände eine gewisse Behinderung dar, da die Situation den Nationalverbänden kurzfristig keine Entscheidungen abverlangt. Und genau das dürfte von der IBA auch beabsichtigt sein. Wer jetzt zu World Boxing wechselt, stellt zwar einen gewissen Mut unter Beweis und darf sich Vorreiter nennen, nimmt aber erst einmal auch eine Reihe praktischer Nachteile in Kauf.
Zu einer möglichen Strategie des Störens passt, dass die IBA mit scheinbarer Großzügigkeit solche Boxer*innen auf individueller Basis zur Teilnahme an ihren Wettbewerben einlädt, die eigentlich Verbänden angehören, die auf Distanz zur IBA gegangen sind oder gar ausgeschlossen wurden. Das ist natürlich geeignet, in den Verbänden Konflikte zu schüren. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Fraglich, ob die IBA noch einen Deut auf das olympische Boxen setzen würde, wenn man damit keine Zwietracht mehr säen könnte.
World Boxing: Weitere Nationen überzeugen
Für World Boxing wird es nun im Kern um zwei Dinge gehen müssen:
Zum einen muss der neue Weltverband weitere Mitglieder gewinnen, vor allem aus Afrika und Asien. Denn das IOC wird belastbare Zeichen dafür sehen wollen, dass der neue Verband den Boxsport wirklich global repräsentiert, also über geografische, kulturelle und politische Identitäten und Strukturen hinweg.
Vor allem auf dem afrikanischen Kontinent dürft es dem neuen Verband aber nicht leicht fallen, weitere Nationalverbände von sich zu überzeugen – auch wenn es hier zuletzt einmal einen überraschenden Dissens zwischen der IBA und einer Reihe von afrikanischen Nationalverbänden gab. Umar Kremlev hat in Afrika in den zurückliegenden Jahren mit einer Mischung aus intensiver Reisediplomatie und »Förderungen« (oder den Versprechungen von Förderungen) jedoch starke Loyalitäten schaffen können, die im Kern wohl noch fortbestehen.
Dazu kommt: Als Folge der russischen Einflussnahme auf die IBA haben sich sich aktuell vor allem Länder des globalen Nordens von der IBA distanziert und bilden im neuen Weltverband bislang noch einen Schwerpunkt. In den Ländern des globalen Südens werden diese westlichen Länder aber immer auch noch als ehemalige Kolonisatoren oder imperialistische Mächte betrachtet. Nach Jahrhunderten der Ausbeutung keine ganz unverständliche Sichtweise. Ein (jedenfalls bislang noch) von ihnen dominierter Verband ist da erst einmal nicht unbedingt die natürliche, erste Wahl.
Eine russisch dominierte IBA mag hingegen für Nationalverbände des globalen Südens im Vergleich attraktiver erscheinen: Russland weckt hier Erinnerungen an eine Sowjetunion, die in den Zeiten des Kalten Krieges viele ehemalige Kolonien auf dem Weg zur Selbstständigkeit unterstützte. Das ist an vielen Orten in Erinnerung geblieben – und die IBA knüpft daran ganz bewusst an.
Dass das postsowjetische Russland der Gegenwart (zumal unter Putin) sich jedoch immer mehr zu einem autoritären, turbokapitalistischen System mit hegemonialen oder gar imperialistischen Zügen entwickelt hat, wird leider übersehen, ausgeblendet oder hingenommen. Allianzen bilden sich eben oft auch nach dem Motto, dass der Feind meines Feindes mein Freund sein muss.
Vor dem Hintergrund dieser historischen und politischen Aspekte waren die Beitritte Brasiliens und Nigerias wichtige Meilensteine für World Boxing. Würden nun noch Nationen wie Kuba und Indien und zwei oder drei Länder aus dem ehemaligen sowjetischen Einflussbereich folgen (wie etwa Polen, Usbekistan oder die Ukraine), so könnte dies vielleicht den Beginn eines Erdrutsches markieren.
Word Boxing: Wettkampfoptionen bieten
Zum anderen wird es für Word Boxing darum gehen müssen, in absehbarer Zeit einen Wettkampfkalender mit hinreichenden Höhepunkten zu etablieren. Die für 2024 geplante WM der U19 könnte hier ein wichtiger Punkt sein.
Allerdings: Man wird bei allen Wettbewerben erst einmal naturgemäß kleinere Brötchen backen müssen als die IBA. Weniger Teilnehmer, weniger Glitter – und ziemlich sicher auch keine Preisgelder. Doch die Konzentration auf das Sportliche könnte auch den sichtbaren Unterschied verdeutlichen. Ein »Back to the Roots« verbunden mit einer Ausrichtung auf eine olympische Perspektive könnte den historischen Neuanfang mit einiger Dynamik versehen.
Die inzwischen ausgetretenen oder jüngst ausgeschlossenen Nationalverbände (und weitere Ausschlüsse drohen) können bei Veranstaltungen der IBA mit ihren Sportler*innen nicht mehr antreten. Ob sie noch bei Veranstaltungen ihrer Kontinentalverbände teilnehmen können, muss abgewartet werden. Zweifel erscheinen aber begründet, denn so hat z.B. der europäische Kontinentalverband EUBC bereits die von der IBA verhängten Suspendierungen übernommen. Das lässt erwarten, dass sie auch den Ausschluss übernehmen werden.
Schon kurzfristig sollte World Boxing daher seinen angeschlossenen Verbänden einen Sportbetrieb ermöglichen, der auf der Zielgeraden der Olympischen Sommerspiele eine ausreichende Vorbereitung auf Paris 2024 ermöglicht. Das können die betroffenen Länder im Prinzip zwar auch unter sich organisieren, aber der neue Weltverband wäre gut beraten, hier im Rahmen seiner Möglichkeiten Präsenz zu zeigen und Unterstützung zu leisten, denn schließlich ist die Organisation und Förderung des sportlichen Verkehrs seiner Mitglieder eine der zentralen Aufgaben eines Sportverbandes.
IOC sollte weitere Signale geben
Sollte der Internationale Sportgerichtshof CAS 2024 gegen die IBA entscheiden, dürfte das einigen Nationalverbänden, die jetzt noch der IBA angehören, zu denken geben.
Das Blatt dürfte sich aber vor allem dann deutlich wenden, wenn das IOC irgendwann klarere Signale in Richtung der globalen Box-Community senden würde. Dabei gab es bereits recht klare Aussagen, die aber leider anscheinend dennoch nicht überall in der Welt entsprechend verstanden wurden. Im Grunde muss man eigentlich nur die drei Kernaussagen des IOC-Präsidenten Thomas Bach kombinieren:
- Mit der IBA wird es definitiv kein olympisches Boxen mehr geben.
- Das IOC möchte das Boxturnier 2028 nicht zum dritten Mal selbst durchführen, sondern in die Hände eines neuen Verbandes legen.
- Word Boxing benötigt mehr Mitglieder, um als Gesprächspartner für das IOC infrage zu kommen.
Im Klartext: Der neue Verband braucht mehr Masse. Hier beißt sich aktuell allerdings die Katze in den Schwanz: Ohne deutlichere Signale verharren viele Nationalverbände offenbar noch in ihrer Komfortzone und glauben anscheinend, dass sie langfristig vom gut gedeckten Tisch der IBA profitieren können und ihr Sport dabei zugleich olympisch bleiben wird. Ungefähr so waren jedenfalls die meisten Aussagen auf dem Kongress des asiatischen Kontinentalverbandes zu interpretieren.
Das könnte jedoch eine fatale Fehleinschätzung sein. Zwar hatte sich ein IOC-Funktionär einmal so geäußert, dass Boxen auch 2028 in Los Angeles im Programm bleiben solle, aber diese eher beiläufige Äußerung als Bestandsgarantie für den olympischen Status des Boxsports über 2024 hinaus zu deuten, scheint gewagt – und nährt bei eher weniger weitsichtigen Nationalverbänden letztendlich die Hoffnung, dass man im Grunde nichts bewegen müsse, weil es ewig so weitergehen werde wie jetzt.
Wenn sich das IOC schon nicht zu deutlicheren Worten durchringen kann, so würden es vielleicht auch Gesten tun, die eine Signalwirkung entfalten. Das IOC könnte etwa Vertreter von World Boxing öffentlich als offizielle Beobachter des Boxturniers in Paris 2024 einladen. Das wäre unabhängig von jeder Aufnahme von Gesprächen und erst recht vor jeder Anerkennung als Verband möglich. Gleichwohl würde damit klar erkennbar werden, auf welches Pferd das IOC setzt, ohne dass dabei gesagt werden müsste, dass dieses Pferd die Ziellinie schon passiert habe.
Ein solch deutliches Signal dürfte letztlich auch im Interesse des IOC liegen, wenn es damit dem neuen Verband zu der Masse verhilft, die aus Sicht des IOC die Voraussetzung für die Aufnahme von Gesprächen bildet. Es brächte die Entwicklung dem Ziel näher, dass Boxen 2028 in Los Angeles im Programm bleiben kann, aber nicht mehr durch das IOC selbst verantwortet wird.