Anstehende Jahreswechsel sind Zeiten der Rück- und Ausblicke. Aus dem zu Ende gehenden Jahr sollen an dieser Stelle einmal drei boxsportliche Aspekte in den Fokus genommen werden.
Corona kein großes Thema mehr
Im auslaufenden Jahr 2023 spielte Covid-19 im Boxsport keine große Rolle mehr. Überall herrschte weitgehend normaler Betrieb – ob im Training oder bei Wettkämpfen. Alle Meisterschaftsturniere sowie die Bundesligabegegnungen konnten wie geplant ausgerichtet werden.
Das spiegelt die Gesamtlage wider: Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist die zurückliegende Pandemie kein großes Thema mehr. Die Prognose der Virologen hat sich bewahrheitet: Die pandemische Ausnahmelage wandelte sich inzwischen zur endemischen Dauerlage. Denn natürlich ist Covid-19 nicht aus der Welt. Das Virus SARS-CoV‑2 mutiert und zirkuliert auch weiterhin und sorgt (gerade im Moment) wieder für viele Infektionen. Es wird nicht mehr verschwinden.
Doch nach Impfungen und durchgestandenen Infektionen bleiben die akuten Verläufe bislang glücklicherweise ganz überwiegend harmlos. Jedenfalls wenn man nicht zu den Risikogruppen gehört.
Allerdings steht auf einem anderen Blatt, ob wiederholte oder etwa in kurzen Abständen durchlebte Covid-19-Infektionen nicht doch irgendwann schwerwiegendere Folgen haben könnten. Denn ein Schnupfen scheint Covid-19 nicht zu sein – und wird sich vielleicht auch nie ganz dort einreihen. Dazu gibt es zu viele Hinweise, dass die Erkrankung auch andere Organe betreffen und beinträchtigen kann.
Die Wissenschaft hat hier noch viel zu tun, und es bleibt abzuwarten, ob wir uns auf lange Sicht mit einem neuen chronischen Krankheitsbild auseinandersetzen müssen.
Soviel man hören kann, haben die meisten Sportvereine die Pandemie trotz aller Schwierigkeiten überlebt und können sich inzwischen wieder über steigende Mitgliederzahlen freuen. Das vielen Menschen etwas altbacken erscheinende Modell »Sportverein« bewies in der Pandemie eine erstaunliche Resilienz. Dem gemeinnützigen Sportverein, in dem man eben Mitglied und nicht Kunde ist, hielten viele Menschen am Ende die Treue. Auch, aber eben nicht nur eine Frage der Kosten. Das könnte direkt etwas Hoffnung darauf machen, dass solche Formen der Vergemeinschaftung als Alternativen zur Durchkommerzialisierung der Lebenswelt nicht völlig in Vergessenheit geraten.
Fazit: Corona ist (wie prognostiziert) zum endemischen Normalzustand geworden. Schön ist das dennoch nicht. Aber irgendwie muss man nun mit einem fiesen Virus mehr leben. Kriegt man aber irgendwie hin.
Olympische Spiele in Paris 2024
Das bevorstehende Jahr ist das Jahr der Olympischen Sommerspiele in Paris. Weil die Spiele in Tokyo pandemiebedingt von 2020 auf 2021 verschoben werden mussten, ist der olympische Zyklus mit drei statt vier Jahren kürzer ausgefallen als sonst.
Zum zweiten Mal in Folge wird das olympische Boxturnier (einschließlich der vorgeschalteten kontinentalen Qualifikationswettbewerbe) nun nicht von einem zuständigen Weltverband ausgerichtet, sondern vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) selbst. Ein beispielloser Vorgang und als solcher das Ergebnis eines immer tiefer werdenden Zerwürfnisses zwischen dem Weltverband IBA (ehemals AIBA) und dem IOC. Dazu aber an anderer Stelle mehr.
Für die Boxerinnen und Boxer des Deutschen Boxsport-Verbandes wird es schwer: Beim europäischen Qualifikationsturnier vom 23.06. bis zum 02.07.2023 in Polen gab es zwar zwei Bronzemedaillen (Irina Schönberger in der Gewichtsklasse bis 75 kg, Nelvie Tiafack in der Gewichtsklasse über 92 kg), doch die langten nicht, um sich für Paris zu qualifizieren. Dafür hätte es mindestens Silber sein müssen.
Nun geht also die ganze Hoffnung auf die beiden Weltqualifikationsturniere in Italien (29.02.2023 bis 12.03.2023 in Busto Arzizio, Italien) und Thailand (23.05.2024 bis 03.06.2024 in Bangkok, Thailand). Die letzten Fahrkarten für Paris können und müssen nun dort gelöst werden.
Allein: Das Feld der Teilnehmerinnen und Teilnehmer wird dort vermutlich ungewohnt hochkarätig besetzt sein, denn vor allem bei den amerikanischen und asiatischen Qualifikationsturnieren setzten sich viele Favoritinnen und Favoriten überraschend nicht durch. Hier nur einige Beispiele:
- Kuba hat erst 3 von 13 möglichen Tickets lösen können (3 von 7 möglichen Startplätzen bei den Männern und 0 von 6 möglichen Startplätzen bei den Frauen).
- Kasachstan konnte bislang nur 2 von 13 Fahrkarten sichern (1 von 7 möglichen Startplätzen bei den Männern, 1 von 6 möglichen Startplätzen bei den Frauen).
- Usbekistan brachte erst 4 von 13 möglichen Athletinnen und Athleten nach Paris (3 von 7 möglichen Startplätzen bei den Männern und 1 von 6 möglichen Startplätzen bei den Frauen).
Diese aber unbestritten guten Boxerinnen und Boxer werden nun in diese letzten beiden Turniere drängen.
Dazu kommen womöglich noch die einen oder anderen russischen (und eventuell weißrussischen) Athletinnen und Athleten, da das IOC individuellen Athleten dieser beiden Staaten inzwischen den Start in Tokyo ermöglicht. Dies allerdings nur als neutrale Sportler ohne nationale Symbole wie Flaggen und Hymnen. Zudem dürfen sie keinen Sicherheitsorganen der beiden Staaten angehören, den Krieg nicht unterstützen und müssen die Befolgung aller Anti-Doping-Regeln nachweisen. Wie viele Sportlerinnen und Sportler aus Russland und Weißrussland dies erfüllen können oder wollen, bleibt abzuwarten.
Kurzum: Während die Weltqualifikationsturniere sonst der vielleicht eher etwas leichtere Weg waren, um zu den Spielen zu gelangen, scheint es dieses Mal eine größere Herausforderung als sonst werden zu können. Es bleibt spannend.
Fazit: Irgendwie muss man befürchten, dass es von Mal zu Mal enger wird. Hoffentlich sind wir am Ende überhaupt dabei. Monokausale und populistische Erklärungsansätze führen jedoch nicht weiter, denn das Thema ist komplex.
100. Deutsche Meisterschaft in Schwerin
Dem runden Verbandsjubiläum folgte in diesem zu Ende gehenden Jahr noch das runde Meisterschaftsjubiläum. Die 100. Deutsche Meisterschaft im Boxen wurde nach Schwerin vergeben – eine Entscheidung, die sich als richtige Wahl herausstellen sollte.
Die Organisation und Durchführung des Turniers setzten Maßstäbe. Leider konnte (ausgerechnet im Jubiläumsjahr) die sportliche Qualität da nicht immer ganz mithalten: Es fehlten an der Spitze einige Boxerinnen und Boxer, die sich wegen der noch bevorstehenden Qualifikationsturniere für Paris 2024 eher auf internationaler Ebene bewegen müssen. Ihre Teilnahme hätte der sportlichen Qualität sicherlich gut getan, aber Olympia steht verständlicherweise eben über allem.
Dennoch: Schwerin war allein als »Event« ein großer Erfolg. Dazu trug wohl eine Kombination verschiedener Faktoren bei:
- Schwerin hat eine lange Boxtradition, die weit in die Zeiten der ehemaligen DDR zurückreicht, aber eben bis heute fortgeschrieben werden konnte. Zum einen sichert dies dem Boxsport in dieser Stadt eine hohe öffentliche und mediale Beachtung, zum anderen hat es für die Heranbildung eines fachkundigen und treuen Publikums gesorgt. Schon die Kampfabende der Bundesliga sind in Schwerin stets gut besucht, die Meisterschaft war es (wenig überraschend) nun umso mehr. In Schwerin gibt es ein großes, boxaffines Publikum, dass die Grundlage eines ausverkauften Finalabends legte und durch Anreisende ergänzt wurde. Heraus kamen dabei Bilder eines wertigen Sportabends.
- Schwerin hat als Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns mit jedoch nur etwa 100.000 Einwohnern eine gute Mischung aus überregionaler Bekanntheit und überschaubarer Größe. Ein Meisterschaftsturnier in einer »Randsportart« (man möge diesen schmerzhaften Begriff verzeihen) kann sich hier auch nach den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie behaupten – erst recht, wenn durch Tradition ein so stabiles Fundament geschaffen wurde. In Metropolen wie Berlin, Hamburg, Köln oder München droht hingegen der Untergang: Zu groß ist dort die Eventkonkurrenz durch andere Sportarten (allen voran die 1. oder 2. Fußballbundesliga) oder durch Konzerte und andere Events. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an die 2017 eher mäßig besuchte AIBA-WM in Hamburg.
- Der ausrichtendende BC Traktor Schwerin verfügt durch die Bundesligateilnahmen und die Ausrichtung vieler weiterer Turniere über eine solide Erfahrung bei der Durchführung solcher Veranstaltungen – zumal in der Palmberg Arena, der guten Stube des Schweriner Boxens. Hier schienen alle Abläufe erkennbar eingespielt und, soweit man das von Außen sagen kann, ohne nennenswerte Reibungsverluste. Auch hatte der Austragungsort die richtige Größe. Denn schließlich ist es bei dem Finale einer Meisterschaft nicht anders als bei einer guten Party: Stimmung kommt auf, wenn die Hütte voll ist. Und das war sie am letzten Tag des Turniers.
Es wäre vielleicht eine Idee, das »Produkt Deutsche Meisterschaft der Erwachsenen« vor dem Hintergrund der Eindrücke aus Schwerin einmal neu zu denken. Bislang wandert diese Meisterschaft prinzipiell von Jahr zu Jahr durch die Landesverbände – wohl auch, um damit dem föderalen Charakter eines Bundesverbandes zu entsprechen.
Das hat so gesehen natürlich eine gewisse Berechtigung, aber eben auch den Nachteil, dass wechselnde Ausrichter, wechselnde Beteiligte, wechselnde Orte und wechselnde Rahmenbedingungen zu jeweils sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen (also kaum Standards etablieren) und einer kontinuierliche Fortentwicklung des »Produktes« im Grunde entgegenstehen oder sie zumindest limitieren.
Das betrifft zwar nicht den sportfachlichen Teil der ganzen Sache, aber eben die Präsentation eines unserer Spitzenwettbewerbe in der Öffentlichkeit. Wie gut es aber gerade einer »Randsportart« tut, in einem wertigen Rahmen wahrgenommen zu werden, hat man jetzt in Schwerin und zuvor 2019 in Berlin gesehen, als die Deutschen Meisterschaften im Rahmen der Finals ausgetragen wurden – und dort bei den Übertragungen hohe Einschaltquoten erzielen konnten.
Vielleicht wäre es eine erwägenswerte Idee, das Produkt »Deutsche Meisterschaft« für mehrere Jahre an einem Ort zu belassen und dort zu pflegen und aufzubauen. Eventuell in der Kooperation mit einem professionellen Partner, der am langfristigen Aufbau eines Events interessiert ist, während der Verband die Rahmenbedingungen definiert und natürlich die Hoheit in allen sportlichen Belangen behält. Schwerin hat es gezeigt: Am besten vielleicht an einem Ort mit gewisser Bekanntheit, aber von überschaubarer Größe und ohne allzu großer Konkurrenz durch andere Events. Neben der Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns könnten einem hier z.B. noch Bonn, Dresden, Erfurt, Göttingen, Halle, Hannover, Kassel, Münster, Wiesbaden und Würzburg in den Sinn kommen.
Man würde bei genauerer Betrachtung einer solchen Idee sicherlich noch viele Einwände oder Probleme finden. Wir alle wissen: Was sich mal eben so fix denken lässt (und aus der Entfernung vielleicht gut aussehen mag), ist nicht immer ebenso leicht umsetzbar. Eine der größten Fragen dürfte aber sein, ob sich der Deutsche Boxsport-Verband und die Landesverbände mit einer solchen Idee überhaupt befassen möchten.
Fazit: Boxen kann auch jenseits der eigenen Bubble attraktiv sein. Das können wir uns nur nicht mehr so recht vorstellen. Und es bedürfte vielleicht einiger neuer Denkansätze, um etwas zu bewegen.