
Der Weltverband des olympischen Boxens IBA (vormals AIBA) hat sich nach einer unmittelbar vorangegangenen Sitzung seines Führungspersonals gestern zum Ukraine-Krieg und seinen Auswirkungen auf die sportlichen Beziehungen zu Russland und Weißrussland positioniert.
Russland und Weißrussland im olympischen Boxsport isoliert
Die IBA verurteilte den Bruch des Olympischen Friedens und die »militärischen Aktivitäten« gegen die Ukraine. Athlet*innen und Funktionär*innen (einschl. Kampfrichter*innen) aus beiden Ländern sollen fortan nicht mehr zu internationalen Wettbewerben eingeladen und zugelassen werden. Nur wo das aus organisatorischen oder rechtlichen Gründen nicht mehr zu verhindern ist, sollen sie noch als neutrale Sportler*innen teilnehmen können. Ebenso wurden alle in Russland oder Weißrussland geplanten internationalen Wettbewerbe für dieses Jahr abgesagt. Diese Entscheidungen, so die IBA, würden ständig überprüft.
IBA folgt den Forderungen des IOC
Mit diesen Entscheidungen schwenkt die IBA unter Leitung des russischen Präsidenten Umar Kremlev auf den Kurs des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ein, der genau diese Maßnahmen von seinen Mitgliedsverbänden gefordert hatte. Zahlreiche Weltverbände waren dem inzwischen auch gefolgt und hatten entsprechende Beschlüsse gefasst.
Man darf jedoch annehmen, dass der IBA diese Entscheidung nicht leicht gefallen sein dürfte, denn der Weltverband des olympischen Boxens ist in besonderem Maße mit Russland verknüpft: An seiner Spitze steht seit Dezember 2020 ein russischer Präsident, dem eine Nähe zum Kreml nachgesagt wird. Zudem ist er finanziell abhängig von seinem einzigen Sponsor, dem russischen Staatskonzern Gazprom.
Wahrscheinlich hat sich in der IBA die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Zukunft des Boxsports als olympische Disziplin überaus unwahrscheinlich würde, wenn sich der Verband den Forderungen des IOC nicht anschließt. Denn die IBA (aktuell aus dem Familie der olympischen Sportverbände ausgeschlossen) steht unter kritischer Beobachtung des IOC.
Bei den olympischen Spielen 2024 plant das IOC aktuell zwar den Boxsport noch mit ein (allerdings bereits mit reduziertem Umfang), doch als sicher kann das keineswegs gelten. Und für 2028 in Los Angeles ist der Boxsport bislang schon gar nicht mehr vorgesehen. Erst wenn die IBA das IOC durch glaubwürdige Reformen und Zuverlässigkeit überzeugt, hätte der Boxsport wieder olympische Perspektiven.
Die Beziehungen zu Gazprom waren kein Thema
Die Erklärung der IBA erwähnt den russischen Staatskonzern Gazprom nicht, der als alleiniger Sponsor den Weltverband über Wasser hält. Dabei hatten zuletzt 12 nationale Boxverbände in einem offenen Brief an die Leitung der IBA (Link öffnet neues Fenster) eine Trennung von Gazprom gefordert. Und in der Tat: Viele Vereine und Verbände anderer Sportarten trennten sich in den zurückliegenden Tagen von russischen Geldgebern. Allerdings wurde im Forderungs- bzw. Erwartungskatalog des IOC (Link öffnet neues Fenster) an seine Mitgliedsverbände eine Trennung von russischen Sponsoren nicht thematisiert.
Die IBA hatte am 25. Februar gegenüber dem Nachrichtenportal insidethegames.biz noch bekräftigt, an Gazprom als Partner festzuhalten: »Die derzeitigen kommerziellen Vereinbarungen der IBA bleiben bestehen.« Das verwundert nicht, denn ohne das Geld aus den Kassen von Gazprom wäre der Verband vermutlich kaum eine Woche überlebensfähig. Genau diese Abhängigkeit besorgte das IOC aber in einer nicht lang zurückliegenden Stellungnahme (Link öffnet neues Fenster).
Auslegungsfragen können entscheidend sein
Welche Folgen die IBA-Beschlüsse in der Praxis tatsächlich haben werden, könnte noch spannend werden. Die Äußerungen lassen gewisse Interpretationsspielräume offen:
Russland und Weißrussland sollen von internationalen Veranstaltungen ausgeschlossen werden. Die Frage ist, was aus Sicht der IBA darunter zu verstehen ist. Der Weltverband kennt nämlich drei Arten von Veranstaltungen:
- IBA-owned: Im Kern die Weltmeisterschaften der Erwachsenen und der U19
- IBA-sanctioned: Im Kern die Kontinentalmeisterschaften der Erwachsene und der U19, European Games, Asian Games etc.
- IBA-affiliated: Im Kern die Kontinentalmeisterschaften der U22 und jüngere Altersklassen
Die IBA könnte darunter etwa lediglich die »IBA-owned«-Veranstaltungen verstehen wollen. In dieser Interpretation der Dinge dürften russische oder weißrussischen Sportler*innen und Funktionär*innen theoretisch an Europameisterschaften noch teilnehmen. Im Moment erscheint dies jedoch ausgeschlossen. Das IOC würde dies kaum akzeptieren. Eher scheint denkbar, dass nationale Boxverbände den sportlichen Austausch mit Russland oder Weißrussland auf sozusagen »bilateraler Ebene« irgendwann wieder aufnehmen, dass z.B. russische Boxer (komplett an der IBA vorbei) in Serbien starten können.
Wenn es aus organisatorischen oder rechtlichen Gründen unvermeidlich ist, dürfen russische Sportler*innen als neutrale Athlet*innen antreten. Dies könnte die Tür ggf. weit aufstoßen. Denn wenn die IBA bei den Qualifikationen für Paris 2024 wieder eine Rolle spielen sollte, könnte es sein, dass Athlet*innen bereits bei kommenden IBA-Turnieren Punkte für ihre Qualifikation sammeln müssten. Die Frage ist, ob russischen Athlet*innen dies verwehrt werden wird / darf, weil sie 2024 womöglich ja wieder an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfen. Eine sportlicher Ausschluss jetzt würde also Fakten schaffen, die womöglich dann noch eine relevante Wirkung haben, wenn der Ausschluss vielleicht gar nicht mehr besteht. Allerdings kann man einwenden, dass das Wesen einer Strafe gerade darin besteht, dass sie Folgen für die Zukunft haben kann. Eine Haftstrafe lässt sich zum Beispiel auch nicht mit dem Argument abwenden, dass sie über den Nachteil der Haft hinaus für den Verurteilten etwa zum Verlust des Arbeitsplatzes führt.
Die Entscheidungen werden ständig überprüft. Hier deutet sich an, dass bereits bei der Verkündung der Entscheidung ihre Vorläufigkeit mitbedacht ist. Formal sicherlich richtig, da jede Entscheidung an bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen zu knüpfen ist und nicht bis zum Ende aller Tage gelten soll. Dennoch bleibt offen, unter welchen Umständen eine Überprüfung auch zu einer Änderung der Entscheidung führen wird. Wenn Russland »nur« die Hälfte des Landes besetzt? Wenn die Öffentlichkeit sich an den Krieg gewöhnt hat? Wenn Russland eine Marionettenregierung installiert hat und sich formal wieder zurückzieht?
Die Erklärung der IBA vom 04.03.2022 in deutscher Übersetzung:
Der IBA-Vorstand traf sich heute, um weitere Maßnahmen zur Unterstützung der jüngsten IOC-Empfehlungen und der Situation in der Ukraine zu beschließen.
Die IBA verurteilte den Bruch des Olympischen Friedens und die militärischen Aktivitäten gegen die Ukraine und nahm die IOC-Empfehlung in Bezug auf die Teilnahme von Boxern und Wettkampffunktionären (einschließlich Ring- und Punktrichtern) an, die den nationalen Verbänden von Russland oder Weißrussland angehören. Dementsprechend werden sie nicht zur Teilnahme an internationalen Boxwettbewerben eingeladen oder zugelassen. Wo dies aus organisatorischen oder rechtlichen Gründen kurzfristig nicht möglich ist, dürfen sie nur als neutrale Sportler teilnehmen. Dieser Beschluss tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft. Der Vorstand stimmte auch der Absage der für dieses Jahr in Russland und Weißrussland geplanten internationalen Veranstaltungen gemäß der Empfehlung des IOC zu. Diese Entscheidungen werden ständig überprüft werden.
Die IBA ist fest entschlossen, den Sport in den Dienst der friedlichen Entwicklung der Menschheit zu stellen. Im Einklang mit diesen Verpflichtungen bot der IBA-Vorstand auch seine volle Unterstützung für Maßnahmen an, die den ukrainischen Boxern helfen sollen.