»Es ist kompliziert« – auf Facebookprofilen kann man diesen Status auswählen, wenn das Beziehungs- und Liebesleben eines Nutzers nicht so recht auf einen Punkt gebracht werden kann. Ähnlich verhält es sich unter den Bedingungen der Corona-Krise zur Zeit im Sport.
Erwiesenermaßen verbreitet sich das Corona-Virus hauptsächlich über Tröpfcheninfektionen, d.h. durch das unvermeidliche Ausstoßen kleinster Wassertröpfchen etwa beim Ausatmen, Sprechen, Schreien, Husten oder Niesen. Diese sind bei infizierten Menschen mit Viren belastet und können andere anstecken, wenn sie (ebenso unvermeidlich) eingeatmet werden.
Der Stand der Fakten: Enge, intensive Kontakte verbreiten die Infektion
Dabei gilt: Je mehr Menschen sich räumlich näher kommen oder gar in engeren Körperkontakt treten, desto besser verbreitet sich das Virus. Je intensiver die Aktivitäten eines Infizierten sind, desto intensiver ist auch der Ausstoß von Viren, da unter Anstrengung natürlich mehr aus- und eingeatmet wird. Geschieht dies in geschlossenen Räumen, verschärft sich die Lage abermals, weil eine mangelnde Durchlüftung die Konzentration der Viren in der Raumluft steigen lässt.
Für die Ausbreitung des Virus in Deutschland spielten drei ähnlich gelagerte Geschehnisse an drei unterschiedlichen Orten eine wesentliche Rolle: Eine Karnevalsfeier in Nordrhein-Westfalen, ein Starkbierfest in Bayern und Après-Ski-Parties im österreichischen Ischgl. Überall dort konnten Infizierte auf engem Raum das Virus auf andere übertragen, die es natürlich nach der Ansteckung ihrerseits weiter verbreiteten.
Aus dieser (freilich epidemiologisch nicht neuen) Erkenntnis resultierten die Entscheidungen zu einem mehrwöchigen »Lockdown« der Gesellschaft einschließlich der Kontakteinschränkungen und Abstandsgebote.
Der »Lockdown« brachte die Infektionen unter Kontrolle
Die Maßnahmen (an deren Umsetzung und Verhältnismäßigkeit im Detail durchaus Kritik geübt werden kann) zeigten Erfolg: Die wichtigen epidemiologischen Kennziffern entwickelten sich hierzulande eine Zeitlang in eine günstige Richtung. Dabei ist egal, welche Kennziffer man letztlich in den Fokus rückt: Infiziertenzahl, Verdopplungsrate oder Reproduktionszahl beschreiben alle den Verlauf einer Pandemie.
Man darf annehmen, dass die am 16. März verordneten Maßnahmen eine exponentielle Verbreitung der Pandemie verhindern konnten, unter der das Gesundheitssystem wohl kollabiert wäre. In Deutschland waren daher keine Bilder zu beklagen, wie sie aus anderen – auch europäischen – Ländern zu sehen waren bzw. immer noch zu sehen sind.
Die verhinderte Katastrophe scheint aber da und dort den Leichtsinn zu beflügeln: Manch einer hält ausgerechnet die verhinderte Katastrophe inzwischen für einen Beleg dafür, dass sie gar nicht gedroht hätte. Man könnte sagen: Der Sinn der Maßnahmen wird von einigen Menschen gerade deswegen infrage gestellt, weil sie erfolgreich waren.
Kontakt- und Zweikampfsportarten bergen zur Zeit Risiken
Vernünftigerweise wird man nicht bestreiten können, dass der Boxsport (zusammen mit ähnlichen Sportarten) vor dem Hintergrund einer zwar augenblicklich anscheinend gebremsten, aber keineswegs überwundenen Pandemie aus epidemiologischer Sicht eher zu den »problematischen« Sportarten zählen muss. Dafür sprechen vor allem folgende Gründe:
- In den üblichen Trainingsformen und erst recht im Wettkampf kommt es zu fortwährenden und andauernden Körperkontakten und großer Nähe.
- Training und Wettkampf finden üblicherweise in geschlossenen Räumen statt. In vielen üblichen Trainingsformen werden Partner zwischen Übungen gewechselt.
Die günstige Entwicklung der Pandemie im April ermöglichte unlängst jedoch Lockerungen im »Lockdown«. Davon soll nun auch der Sport jenseits des Profifußballs profitieren. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hatte dazu bereits am 14. April den Startschuss gegeben, indem er zehn »Leitplanken« (Link öffnet sich in einem neuen Browserfenster) formulierte, unter denen aus seiner Sicht auch der Vereinssport wieder schrittweise aufleben könne.
Der DOSB meldet die Rückkehr des Sports an
Die »Leitplanken« waren natürlich nicht sportartspezifisch formuliert. Direkt die ersten Punkte mussten allzu enthusiastische Boxsportler jedoch ernüchtern. Der DOSB forderte gleich eingangs ein Abstandsgebot, die Vermeidung von Körperkontakt und den Freiluftsport. Dies stellte klar, dass an ein normales Boxtraining wie in Vor-Corona-Zeiten erstmal nicht zu denken war. Wirklich überrraschen musste das allerdings nicht.
Die einzelnen Sportfachverbände im DOSB waren nach dem Vorstoß des Dachverbandes aufgefordert, auf der Grundlage der »Leitplanken« sportartspezifische Konzepte zu erstellen, die den besonderen Bedingungen der jeweiligen Sportart Rechnung tragen sollen. Sie sammeln sich inzwischen auf der Webseite des DOSB (Link öffnet sich in einem neuen Browserfenster) und sind von durchaus unterschiedlicher Qualität.
Der Deutsche Boxsport-Verband legt ein Sicherheitskonzept für Boxveranstaltungen vor
Mittlerweile wird auch erkennbar, wie der Deutsche Boxsport-Verband (DBV) die Zukunft (Link öffnet sich in einem neuen Browserfenster) plant: Ab September sollen – sofern es dann epidemiologisch vertretbar ist – wieder Wettkämpfe stattfinden können. So sollen u.a. für die Nachwuchsaltersklassen U15, U17 und U19 die Deutschen Meisterschaften in einer zusammengefassten Veranstaltung in Baden-Württemberg nachgeholt werden.
Die Durchführung dieses Großturniers (es ist mit mehreren hundert Sportlern zu rechnen) ist mit strengen Auflagen verbunden. So müssen alle Sportler einen negativen Corona- (nicht älter als 3 Tage) oder (falls bis dahin verfügbar und verlässlich) einen Antikörper-Test vorweisen, der eine überstandene Infektion dokumentieren würde. Alle Trainer, Kampfrichter etc. müssen sich bei Anreise auf COVID-19 testen lassen. Abstände sollen überall eingehalten werden, außerhalb der Hotelzimmer ist fast überall Mundschutz zu tragen. Die Liste der Maßnahmen setzt sich fort und erinnert ein wenig an die Bedingungen, unter denen die 1. und 2. Bundesliga die Saison zu Ende spielen möchte.
Von einer baldigen Normalisierung ist wohl nicht auszugehen
Die Vorstellungen des DBV scheinen grundsätzlich nicht so abwegig, wie einige sie vielleicht im ersten Affekt beurteilen werden. Sie stellen – bei aller Unsicherheit, die derzeit in solchen planerischen Fragen herrschen muss – jedenfalls klar, dass man von einer Normalität noch weit entfernt ist. Sie skizzieren auch, wie wohl nicht nur auf der Nachwuchsmeisterschaft, sondern vielmehr generell unter Coronabedingungen geboxt werden sollte.
Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Maßnahmen bei einer Großveranstaltung mit mehreren Hundert Jugendlichen in einer Wettkampfstätte realistisch durchführbar sind. In frischer Erinnerung ist schließlich noch das Handyvideo (Link öffnet sich in einem neuen Browserfenster) aus der Kabine des Fußballbundesligisten Herha BSC Berlin, mit dem der Profi Salomon Kalou (immerhin 34 und nicht 14 Jahre alt) demonstrierte, wie ernst (oder eben nicht ernst) er selbst das Corona-Konzept der Deutschen Fuball-Liga nahm.
Dem Fußball steht der Boxsport in dieser Hinsicht wahrscheinlich nicht wirklich nach. In den sozialen Medien mehren sich Trainingsvideos, in denen Trainer und Sportler behördlich noch geltende Abstandsgebote schon jetzt zunehmend ignorieren, als sei die Corona-Krise schon überwunden. Dabei versichern Epidemiologen, man stünde erst am Anfang der Pandemie und warnen davor, den ersten Etappenerfolg durch den Leichtsinn zu schneller und zu weitreichender Lockerungen zu gefährden.
Erobert Corona wieder Terrain zurück?
Und in der Tat: Am 9. Mai meldete das Robert-Koch-Institut (Link öffnet sich in einem neuen Browserfenster) für die zurückliegenden Tage wieder vierstellige Zahlen täglicher Neuinfektionen – und auch wieder eine Reproduktionszahl größer Null (1,1), nachdem sie drei Tage zuvor (6. Mai) noch bei 0,7 gelegen hatte. Die Datenlage ist noch zu dünn, um wirklich Alarm zu schlagen, aber es könnte sein, dass sich die Corona-Pandemie sich hierzulande aktuell wieder Terrain zurück erobert. Die unmittelbar zurückliegenden Lockerungen werden in diese negative Tendenz wohl noch gar nicht eingeflossen sein.
Der Bund gibt die Verantwortung an die Länder ab
Derweil gibt die Politik immer mehr ein unheitliches Bild ab, seitdem eine von den Länderchefs zunehmend genervte Bundeskanzlerin am 6. Mai die Verantwortung für eine stufenweise Rücknahme des Lockdowns weitestgehend den Ländern übertrug. Der Bund hat mit den Ländern jetzt nur noch eine Notbremse verankern können: Steigen in einem Landkreis die Neuinfektionen zu stark, müssen Lockerungen regional zurückgenommen werden. Erste solche Fälle gab es bereits. Sie waren aber nicht auf Sport zurückzuführen, sondern auf Schlachtereibetriebe. Man vermutet, dass die Verhältnisse in den Sammelunterkünfte ausländischer Vertragsarbeiter ursächlich sein könnten.
An die Spitze der Lockerungsmaßnahmen hat sich Nordrhein-Westfalen gestellt. Schon am 6. Mai (also am Tag, an dem das Pandemiemanageent auf die Länder überging) veröffentlichte die Landesregierung eine Erklärung (Link öffnet sich in einem neuen Browserfenster), in der sie weitreichende Lockerungen ankündigte, die jedoch bei genauer Betrachtung mehr Fragen und Zweifel aufwarfen, als sie Sicherheit und Orientierung gaben.
Zumindest dann, wenn man verstehen will, wie etwas gemeint sein könnte, um im Sinne der Verfügungen jene Details vernünftig und verantwortungsvoll regeln zu können, die in den naturgemäß eher allgemein gehaltenen Verfügungen nicht abschließend bestimmt werden können, weil Verfügungen eben nicht alle letzten lokalen Details oder sportartspezifischen Besonderheiten berücksichtigen können.
Große Ankündigen von Lockerungen, dann Zurücknahme
Bezogen auf den Kontaktsport (zu dem man Boxen rechnen muss) hieß es in der Erklärung aus Düsseldorf, dass ab dem 30. Mai an Rhein und Ruhr in allen Altersklassen wieder sportliche Wettbewerbe in geschlossenen Räumen erlaubt seien. Nur wenige Zeilen später (also in derselben Veröffentlichung) hielt die Landesregierung es allerdings für erforderlich, dass in Theatern und Kinos zwischen den Gästen für einen Mindestabstand von 1,5 Metern zu sorgen sei und Ordner abgestellt werden müssten, um die Abstände zu gewährleisten.
Die qualitativen Mängel dieser schnell gestrickten Ankündigung waren indes so offenkundig, dass schon am nächsten Tag (7. Mai) die Staatssekretärin Andrea Milz vor die Mikrofone (Link öffnet sich in einem neuen Browserfenster) geschickt wurde – die dann, den Kontaktsport betreffend, auch mächtig zurückruderte: Sie bezeichnete den Stichtag 30. Mai nunmehr lediglich noch als »Zielgröße«. Es müsse an jedem Tag neu geprüft werden, was gelockert werden könne und was nicht. Es könne heute noch nicht gesagt werden, dass ab dem 30. Mai Wettkämpfe wieder möglich sind.
Unter dem Strich kann dies kaum noch als eine bloße Erläuterung der Erklärung vom Vortag gelten, sondern muss – was den Kontaktsport betrifft – wohl eher als eine Rücknahme interpretiert werden. Fraglich ist aber, ob dies bei betroffenen Trainern und Sportlern überhaupt ankommt.
Der allenorts zutage tretende Dilletantismus und Lockerungswettbewerb fördern jedenfalls nicht gerade die Bereitschaft, der Politik und den Behörden in der Conora-Lockerung großes Gehör zu schenken. Selbst dann nicht, wenn die Rücknahme der großzügigen Versprechen womöglich eher angemessen und vernunftbasiert sein dürfte als die vorherigen Versprechen es waren. Immerhin gewinnt der Düsseldorfer Lockerungsfahrplan etwas an Stringenz, wenn ab dem 30. Mai nicht nur Theaterbesucher, sondern auch Sportler noch Distanz wahren müssen.
Wie kann es mit dem Boxsport weitergehen?
Wie geht es aber nun mit dem Boxsport weiter? Diese Frage ist noch weitgehend ungeklärt. Die jüngste Veröffentlichung des Deutschen Boxsport-Verbandes (DBV) muss man zunächst auf die Hygienemaßnahmen bei den geplanten DBV-Veranstaltungen im September und Oktober beziehen.
Sollte das im kommenden Herbst immer noch der geltende und epidemiologisch gerechtfertigte Standard für Boxveranstaltungen sein, wird es schwierig. Denn die erforderlichen Maßnahmen lassen sich wegen des enormen organisatorischen und finanziellen Aufwands im normalen Wettkampfbetrieb der Vereine nicht umsetzen. Es würde die Gefahr drohen, dass Hygienestandards im Schattenbereich der Nischensportart ignoriert werden, um nur endlich wieder Wettkämpfe austragen zu können.
Schnell geriete der Boxsport an den Pranger, wenn sich sein Trainings- und Wettkampfbetrieb als Katalysator des Infektionsgeschehens erwiese. Dass es nicht Oktoberfeste und volle Fußballstadien braucht, um eine Region zum Hotspot der Epidemie zu machen, konnte man gut im Kreis Heinsberg (NRW) sehen: Eine kleine, lokale Karnevalsfeier mit nur 300 Teilnehmern war eines der Epizentren der Corona-Epidemie in Deutschland. Größenordnungen, die auch Boxveranstaltungen von Vereinen erreichen können, auf denen es sportartbedingt auch viel Körperkontakt gibt.
Dabei stellen sich die Fragen nach epidemiologischen Risiken und sinnvollen Hygienestandards nicht nur für Wettkampfveranstaltungen. Auch das alltägliche Training in den Vereinen braucht Ideen und Konzepte, damit es in diesen Tagen verantwortungsvoll wiederaufgenommen werden kann. Hilfreich, wenn nicht gar erforderlich, wäre hier fundierter Rat und die Unterstützung der Verbände. Hier fiel in der aktuellen Corona-Krise schon früh der baden-württembergische Verband mit umsichtigen und fundiert wirkenden Äußerungen und Maßnahmen positiv auf.