Die olym­pi­sche Per­spek­ti­ve des Box­sports und ein mög­li­cher neu­er Weltverband

Spaltung und Neugründung liegen in der Luft

Das Exe­ku­tiv­ko­mi­tee des Inter­na­tio­na­len Olym­pi­schen Komi­tees (IOC) hat am 6. Dezem­ber 2022 ein neu­es Schrei­ben an den Welt­ver­band (Link öff­net neu­es Brow­ser­fens­ter) des olym­pi­schen Boxens IBA (frü­her AIBA) und die natio­na­len Olym­pi­schen Komi­tees versandt.

In dem Brief bringt das Exe­ku­tiv­ko­mi­tee sei­ne anhal­ten­den Sor­gen über den Box­ver­band zum Aus­druck. Zwar gebe es eini­ge Hin­wei­se auf Ände­run­gen, doch deu­te vie­les dar­auf hin, dass der gefor­der­te dras­ti­sche Kul­tur­wan­del nicht voll­zo­gen wur­de. Daher kön­ne das Exe­ku­tiv­ko­mi­tee sei­ne Hal­tung zur Sus­pen­die­rung des Ver­ban­des der­zeit nicht ändern. 

Müss­te heu­te end­gül­tig ent­schie­den wer­den, so das Exe­ku­tiv­ko­mi­tee des IOC in dem Schrei­ben, kön­ne man der Voll­ver­samm­lung des IOC nicht emp­feh­len, Boxen unter der Zustän­dig­keit der IBA im olym­pi­schen Pro­gramm zu belas­sen. Das Exe­ku­tiv­ko­mi­tee wer­de die Ent­wick­lun­gen der IBA und der Box­ge­mein­schaft wei­ter beob­ach­ten und zu gege­be­ner Zeit eine Ent­schei­dung über die IBA treffen.

Der Kon­flikt mit dem IOC

Das IOC sus­pen­dier­te den Welt­ver­band des olym­pi­schen Boxens 2019 nach lang anhal­ten­den Kon­flik­ten. Grund der Sus­pen­die­rung waren mani­pu­lier­te Kampf­rich­ter­leis­tun­gen, die Über­schul­dung des Ver­ban­des, fort­ge­setz­te Ver­stö­ße gegen die Grund­sät­ze einer guten und trans­pa­ren­ten Ver­bands­füh­rung sowie die Wah­len frag­wür­di­ger Per­so­nen an die Spit­ze des Verbandes. 

Trotz des vor­läu­fi­gen Aus­schlus­ses aus der Fami­lie der olym­pi­schen Sport­ver­bän­de blieb Boxen jedoch im Pro­gramm der Olym­pi­schen Spie­le in Tokio: Das IOC setz­te eine Boxing Task Force ein, die sowohl die Qua­li­fi­ka­ti­ons­wett­be­wer­be als auch das olym­pi­sche Tur­nier selbst in eige­ner Regie organisierten. 

Mit der 2020 erfolg­ten Wahl des Rus­sen Umar Kreml­ev zum Prä­si­den­ten des Box­ver­ban­des ver­schlech­ter­ten sich die Bezie­hun­gen der IBA zum IOC aber­mals: Kreml­ev gilt all­ge­mein als Ver­trau­ter des rus­si­schen Prä­si­den­ten Putin. 

Mit dem neu­en Ver­bands­prä­si­den­ten kam der rus­si­sche Staats­kon­zern Gaz­prom als Spon­sor. Die rus­si­schen Petro-Dol­lar füll­ten die Kas­sen der IBA und ermög­lich­ten es dem Ver­band, das olym­pi­sche Boxen groß zu insze­nie­ren und bei Welt­meis­ter­schaf­ten erst­ma­lig üppi­ge Preis­gel­der für Medail­len auszuschütten.

Im »Mai­son olym­pi­que« am Gen­fer­see zeig­te man sich jedoch wenig über­zeugt: Dort sieht man die IBA inzwi­schen unter star­kem Ein­fluss, wenn nicht gar kom­plett in der Hand des rus­si­schen Staa­tes – und als Instru­ment rus­si­scher Poli­tik. Der neue Reich­tum gilt in Lau­sanne jeden­falls nicht als Garant einer Unab­hän­gig­keit des Ver­ban­des, son­dern im Gegen­teil als Resul­tat rus­si­schen Einflusses. 

Nach­dem das IOC das Box­tur­nier in Tokio selbst in die Hand genom­men hat­te (ein Novum in der Geschich­te der Spie­le), sich die Lage in der IBA aus Sicht des IOC jedoch zwi­schen­zeit­lich nicht ver­bes­sert hat­te, war all­ge­mein das end­gül­ti­ge Aus für den Box­sport als Teil des des olym­pi­schen Pro­gramms erwar­tet worden. 

Über­ra­schen­der­wei­se kam es anders: In Paris 2024 wird das olym­pi­sche Box­tur­nier nun zum zwei­ten Mal durch das IOC selbst durch­ge­führt wer­den – also aber­mals ohne die IBA. Aller­dings: Im vor­läu­fi­gen Pro­gramm für Los Ange­les 2028 ist Boxen nicht mehr enthalten. 

Der Angriffs­krieg Russ­lands gegen die Ukrai­ne bedeu­te­te eine wei­te­re Zer­rüt­tung der Bezie­hun­gen zwi­schen dem IOC und der IBA: Als ers­ter olym­pi­scher Sport­welt­ver­band hob die IBA kürz­lich sämt­li­che Sank­tio­nen gegen rus­si­sche und weiß­rus­si­sche Sport­ler und Funk­tio­nä­re auf. Der Ver­band stell­te sich mit die­ser Ent­schei­dung offen gegen die Linie des IOC und der ande­ren olym­pi­schen Sport­ver­bän­de. Das IOC wird dies ohne Zwei­fel als einen wei­te­ren Beleg für den rus­si­schen Ein­fluss im Ver­band gewer­tet haben.

Spal­tung der Box­welt droht

Die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft des olym­pi­schen Box­sports ist inzwi­schen zer­ris­sen. Aus gut unter­rich­te­ten Krei­sen ist zu hören, dass sich aktu­ell meh­re­re Dut­zend natio­na­le Box­ver­bän­de ver­trau­lich über die Opti­on eines neu­en Welt­ver­ban­des beraten.

Die Ent­schei­dung des IOC, den Box­sport 2024 in Paris ein wei­te­res Mal selbst aus­zu­rich­ten, könn­te hier­für in der Tat ein womög­lich noch knapp aus­rei­chen­des Zeit­fens­ter öff­nen: Eine end­gül­ti­ge Beschluss­fas­sung für oder gegen das Boxen als Teil der Spie­le in Los Ange­les kann theo­re­tisch noch auf 2027 ver­scho­ben werden. 

Bis dahin hät­te ein neu­er Welt­ver­band Zeit, das IOC als neue Ver­tre­tung des olym­pi­schen Boxens zu über­zeu­gen. Eine in die­sem Zeit­raum erfolg­reich aus­ge­rich­te­te Welt­meis­ter­schaft könn­te zum Bei­spiel dabei hel­fen, das IOC von der Leis­tungs­fä­hig­keit des neu­en Ver­ban­des zu überzeugen.

Ermu­ti­gung des IOC?

Und in der Tat mag man in dem jüngs­ten Schrei­ben des IOC Andeu­tun­gen erken­nen, einem neu­en Ver­band die Tür ein wenig öff­nen zu wollen: 

Das Exe­ku­tiv­ko­mi­tee spricht nicht davon, der Voll­ver­samm­lung des IOC gene­rell emp­feh­len zu wol­len, den Box­sport end­gül­tig aus dem Pro­gramm zu neh­men. Es setzt eine mög­li­che Aus­schluss-Emp­feh­lung aus­drück­lich in einen Bezug zur IBA: Man kön­ne nach aktu­el­lem Stand der Din­ge nicht emp­feh­len, das Boxen unter Zustän­dig­keit der IBA im Pro­gramm zu belas­sen. Wei­ter­hin heißt es in dem Schrei­ben, dass man nicht nur die Ent­wick­lun­gen in der IBA beob­ach­ten wer­de, son­dern auch die in der gesam­ten Box­ge­mein­schaft. Das schließt, so wird man es ver­ste­hen dür­fen, auch Bestre­bun­gen jen­seits der IBA ein. 

Die­se For­mu­lie­run­gen schei­nen jeden­falls geeig­net, gewis­se Hoff­nun­gen zu wecken, dass das IOC einem sol­chen Pro­jekt mit Wohl­wol­len begeg­nen könnte.

Vor­aus­set­zung einer Anerkennung

Bei der Neu­grün­dung eines Welt­ver­ban­des und sei­ner Aner­ken­nung durch das IOC wird es wohl maß­geb­lich dar­auf ankom­men, ob der neue Ver­band glaub­haft machen kann,

  1. nach neu­en Grund­sät­zen unab­hän­gig und demo­kra­tisch orga­ni­siert zu sein und zu handeln.
  2. im Kern und in Schlüs­sel­po­si­tio­nen durch unbe­las­te­te Per­so­nen ver­tre­ten zu sein.
  3. den Box­sport auf Spit­zen­ni­veau und mit glo­ba­lem Anspruch zu vertreten.
  4. den Box­sport mit der aus­rei­chen­den Zuver­läs­sig­keit und Qua­li­tät orga­ni­sie­ren zu können.

Die größ­te Auf­ga­be eines neu gegrün­de­ten Ver­ban­des dürf­te sein, dem IOC inner­halb weni­ger Jah­re nach­zu­wei­sen, dass er den Box­sport auf Spit­zen­ni­veau und mit glo­ba­lem Anspruch ver­tritt. Er müss­te also zum einen wenn nicht alle, so doch eine Rei­he füh­ren­der Box­na­tio­nen an sich bin­den, und zum ande­ren in rele­van­ter Zahl Box­ver­bän­de aus allen oder zumin­dest mög­lichst vie­len Kon­ti­nen­ten, Kul­tur­krei­sen und poli­ti­schen Lagern in sei­nen Rei­hen vereinen.

Pro­ble­ma­ti­sche Loya­li­tä­ten und welt­po­li­ti­scher Schatten

Schwie­rig wird dies, weil ein umtrie­bi­ger und rei­se­freu­di­ger Umar Kreml­ev seit Beginn sei­ner Amts­zeit mit einer durch Gaz­prom­geld prall gefüll­ten Rei­se­kas­se durch die Welt jet­tet und groß­zü­gig Geschen­ke ver­teilt. Nicht weni­ge Beob­ach­ter haben den Ein­druck, dass dadurch vor allem in auto­ri­tä­ren Staa­ten und in Län­dern des glo­ba­len Süden Loya­li­tä­ten ent­stan­den sind und wei­ter­hin entstehen.

Dies treibt eine ungu­te Spal­tung der Box­welt vor­an. Man kann inzwi­schen den Ein­druck haben, dass auf der einen Sei­te eher west­li­che Box­ver­bän­de ste­hen, die die Ent­wick­lung der IBA immer stär­ker kri­ti­sie­ren, aber in vie­len Tei­len der Welt viel­leicht nur wenig Gehör fin­den, weil sie im Kon­text der Kolo­nia­li­sie­rungs­er­fah­rung und jün­ge­rer poli­ti­scher Ent­wick­lun­gen womög­lich pri­mär als Ver­tre­ter des glo­ba­len Nor­dens gese­hen wer­den, die nun ein wei­te­res Mal in der Welt dik­tie­ren wol­len, wie etwas zu lau­fen habe.

Eine Schlüs­sel­stel­lung in der Akzep­tanz eines neu­en Ver­ban­des könn­ten Natio­nen wie Kuba, Bra­si­li­en, Indi­en und Chi­na ein­neh­men. Gelän­ge es einem neu­en Ver­band, die­se Län­der an sich zu bin­den, wäre wohl ein gro­ßer Schritt in die Rich­tung getan, den Sport glo­bal auf hohem Niveau zu ver­tre­ten. Es hät­te außer­dem eine poten­zi­ell hohe Strahl­kraft auf den Rest der Welt.

Doch die jüngs­ten Nach­rich­ten sind in die­ser Hin­sicht eher des­il­lu­sio­nie­rend: Indi­en wird nach erst kürz­lich geführ­ten Ver­hand­lun­gen mit der IBA 2023 die Welt­meis­ter­schaft der Frau­en aus­rich­ten. Und in Kuba saß Kreml­ev noch vor weni­gen Tagen zum Plausch auf der Couch von Staats­prä­si­dent Miguel Díaz-Canel. In der Fol­ge ver­ein­bar­ten bei­de Koope­ra­ti­ons­pro­jek­te. Distanz, selbst diplo­ma­ti­sche Distanz, sieht anders aus, möch­te man sagen.

Blie­ben in einem neu­en Welt­ver­band jedoch ein paar Dut­zend natio­na­le Box­ver­bän­de des glo­ba­len Nor­dens unter sich, so könn­te er in der Tat kaum bean­spru­chen, den Box­sport umfas­send inter­na­tio­nal zu reprä­sen­tie­ren. Bei aller Sym­pa­thie gegen­über einem neu gegrün­de­ten Box­ver­band wür­de sich auch das IOC ver­mut­lich schwer damit tun, die­sen Ver­band zu akzep­tie­ren. So könn­te am Ende der Neu­start des Boxens und sei­ne olym­pi­sche Zukunft nicht allein an ver­bands­po­li­ti­schen Fra­gen schei­tern, son­dern weil his­to­risch-poli­ti­sche The­men ihn über­la­gern. Damit wür­de die­ser Kon­flikt eini­ge Par­al­le­len auf­wei­sen mit vie­len ande­ren kaum lös­ba­ren poli­ti­schen Ver­wer­fun­gen der aktu­el­len Zeit.

Die Spon­so­ren der Box­ab­tei­lung des FC St. Pauli: