Erneut hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) einen Brief an den Weltverband des olympischen Boxens IBA (vormals AIBA) geschickt. Und erneut wurde er dem Verband im Vorfeld von Präsidentschaftswahlen zugestellt. Das Schreiben des IOC-Sportdirektors Kit McConnell erreichte den Präsidenten der IBA, den Russen Umar Kremlev, gut zweieinhalb Wochen vor dem außerordentlichen Wahlkongress des Weltverbandes am 25. September in Armenien.
Zur Erinnerung: Gewählt wurde erst Mitte Mai bei einem Kongress im Rahmen der Frauen-WM in Istanbul. Doch die Vorgänge rund um die Wahl beschäftigten schon wenig später den Internationalen Sportgerichtshof CAS in Lausanne.
Sportgerichtshof kassierte Wahl Kremlevs im Mai
Was war geschehen? Eine Kommission des Verbandes hatte unmittelbar vor den Wahlen eine Reihe von Kandidaten für unwählbar erklärt, darunter den Niederländer Boris van der Vorst, den einzigen Herausforderer des amtierenden Umar Kremlev (die anderen Betroffenen hatten für andere Ämter kandidieren wollen). Nunmehr ohne jeden Gegenkandidaten, wurde Kremlev per Akklamation durch einen bloßen Applaus der Delegierten wiedergewählt.
Die von der Wahl ausgeschlossenen Kandidaten wandten sich an den Internationalen Sportgerichtshof, der ihnen im Wesentlichen recht gab. Die vorgeworfenen Satzungsverstöße, die den Ausschluss der Kandidaten von den Wahlen begründen sollen, seien so geringfügig gewesen, dass sie allenfalls eine Ermahnung verdient hätten, entschied das Gericht. Zudem habe Kremlev sie selbst auch begangen, ohne jedoch dafür von der Kommission belangt worden zu sein.
Als Folge dieser Entscheidung des Sportgerichtshofes wurden für den 25. September neue Wahlen angesetzt. Doch auch um diese nun zu wiederholende Wahl entspannen sich Konflikte: Die Tagesordnung sah keine Aussprache vor und die armenische Hauptstadt Jerewan als Ort des Kongresses galt einer Reihe von Nationalverbänden als wenig neutrales und integres Terrain. Ihr Vorschlag, die Wahlen im schweizerischen Lausanne (also am Sitz der IBA und des IOC) durchzuführen, wurde vom Verband abgelehnt.
Immerhin erlaubte jetzt die den Wahlkampf überwachende IBA-Kommission eine öffentliche Debatte der Kandidaten im Vorfeld der Wahl. Diesen Vorschlag hatte der nun erneut kandidierende Boris van der Vorst unlängst unterbreitet. Unklar ist im Moment aber noch, ob Umar Kremlev diese Herausforderung annehmen wird.
IOC: Deutliche Kritik an IBA wegen ausbleibender Fortschritte und Russlandnähe
Just in dieser Situation bringt sich nun das IOC mit dem neuerlichen Brief an die IBA in Erinnerung. In dem Schreiben drückt das IOC einmal mehr seine Besorgnis über die Zustände in dem Verband aus. Die Kritikpunkte sind dabei im Kern seit vielen Jahren identisch: Bemängelt werden die Kampfrichterleistungen, die inzwischen durch Untersuchungen nachgewiesenen Manipulationen (etwa bei den Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro), eine schlechte Verbandsführung sowie die schlechte Finanzlage des Verbandes. Mit dem Amtsantritt des Russen Umar Kremlev kamen noch die finanzielle Abhängigkeit des Verbandes vom russischen Staatskonzern Gazprom als einzigem Sponsor sowie die Nähe zur russischen Politik hinzu. So kritisiert das IOC in dem Brief, dass der Sitz der Verbandes in Lausanne an Bedeutung verlöre, während im Gegenzug das Moskauer Büro Kremlevs in der Verbandsführung immer mehr Gewicht gewänne.
Die kritisierten Zustände hatten bereits 2019 (also noch unter dem Vorläufer Kremlevs und ohne die neu hinzugekommenen russischen Aspekte) zum vorläufigen Ausschluss der IBA (damals noch AIBA) aus der olympischen Familie geführt. In der Folge hatte der Boxverband mit den olympischen Sommerspielen in Tokio nichts mehr zu tun. Stattdessen organisierte eine vom IOC eingesetzte Boxing Task Force die Olympiaqualifikation und das olympische Boxturnier kurzerhand selbst. Ob und wie Boxen 2024 in Paris vertreten sein würde, wollte das IOC dann nach Tokio entscheiden.
Auch in Paris 2024 bleibt IBA außen vor
Die Entscheidung fiel unmittelbar nach dem umstrittenen Wahlkongress im Mai in Istanbul: Unter dem Eindruck von Kremlevs Wiederwahl (trotz wiederholter Warnungen) und der Umstände seiner Wahl entschied das IOC, die IBA erneut von der Zuständigkeit für den Boxsport auszuschließen. Das IOC wird also auch 2024 den Boxwettbewerb noch einmal selbst durchführen.
Für die übernächsten Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles ist der Boxsport – nach jetzigem Planungsstand – schon gar nicht mehr im Programm. Auch dies unterstrich das Schreiben des IOC noch einmal. Das IOC hält es zwar für möglich, dass Boxen wieder ins Sportprogramm der Spiele zurückkehrt, macht dies aber nach wie vor von der Umsetzung der jahrelang geforderten substanziellen Reformen und Fortschritten des Verbandes abhängig.
Wiederwahl Kremlevs gefährdet olympische Zukunft des Boxsports
Wählen die Delegierten der nationalen Boxverbände am 25. September in Armenien jedoch erneut Umar Kremlev, dürfte die Geduld des IOC endgültig aufgebraucht sein. Erst recht, wenn Kremlev an Gazprom als Sponsor festhalten will – oder festhalten muss, weil sich niemand sonst für diesen Verband erwärmen kann. Boxen dürfte in diesem Fall nach den Sommerspielen 2024 in Paris als olympische Sportart der Vergangenheit angehören. Jede andere Entscheidung, möchte man meinen, dürfte das IOC und seine Glaubwürdigkeit schwer beschädigen, weil sich wiederholte Warnschüsse als heiße Luft und folgenlos erweisen würden.
Eine Rettung wäre dann allenfalls noch die Gründung eines neuen Weltverbandes des olympischen Boxens, der sich bis 2028 zu den Spielen in Los Angeles um das Vertrauen des IOC bemühen könnte. Doch dürfte es dabei nicht allein um gute Vorsätze gehen. Ein neuer Weltverband müsste beweisen, dass er den Boxsport in hinreichendem Umfang und auf hohem Niveau international vertritt und organisieren kann. Es müssten ihm also in hinreichender Zahl relevante nationale Boxverbände aus allen Kontinenten angehören, damit er eine olympische Bedeutung erlangt. Dies würde aber die Gefahr einschließen, dass sich bald schon wieder dieselben Strukturen etablieren wie ehedem.
Könnte ein neuer oder anderer Verband das Erbe der IBA antreten?
Denkbar wäre vielleicht auch, dass das IOC anstelle der IBA einen der Profiboxverbände als Vertreter des Boxsports anerkennt. Doch die könnten kaum nachweisen, dass sie jemals den Boxsport in seiner Breite vertreten hätten und in der Lage sind, Turniere dieser Größenordnung einschließlich der Qualifikationswettbewerbe auszurichten. Zwischen der eventorientierten Auffassung des Profiboxens einerseits und dem System der der olympischen Sportarten andererseits liegen dann doch Welten.
Vielleicht rückt auch die WAKO nach, wenn das IOC den einen Kampfsport durch einen anderen ersetzen möchte. Immerhin ist die WAKO seit 2018 durch das IOC anerkannt, strebt den Status einer olympischen Sportart an und produziert weniger negative Schlagzeilen als die Boxer.
Die wahrscheinlichste Variante wird jedoch sein, dass der Boxsport im Rahmen der Verjüngung seines Programms seinen Platz einer ganz anderen Sportart überlassen muss. Mit der Aufnahme von Skateboarding und Sportkletterdisziplinen ins olympische Programm hat man nicht die schlechtesten Erfahrungen gemacht.