Der Konflikt zwischen dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und dem Weltverband des olympischen Boxens IBA (vormals AIBA) eskaliert: Das IOC will prüfen, ob Boxen bereits bei dem Olympischen Spielen 2024 in Paris aus dem Programm genommen wird. Damit relativiert es die eigene Entscheidung aus dem Sommer, an der Suspendierung der IBA zwar festzuhalten, den Boxsport aber dennoch unter eigener Regie in Paris noch ein weiteres Mal im Programm der Spiele zu belassen.
Verlängerung mit Gazprom verärgert IOC
Anlass der Eskalation ist die jüngste Entscheidung der IBA, die seit 2020 bestehende Partnerschaft mit dem russischen Staatskonzern Gazprom zu verlängern. Diese Partnerschaft hatte der 2020 gewählte, umstrittene russische IBA-Präsident Umar Kremlev kurze Zeit nach seinem Amtsantritt bekannt geben können.
Der IBA (damals noch AIBA) sicherte diese Partnerschaft nicht nur das Überleben. Sie erlaubte es dem Verband unter Kremlevs Leitung auf vergleichsweise großem Fuß zu leben: Weltmeisterschaften wurden groß inszeniert und Medaillengewinner*innen konnten mit üppigen Preisgeldern belohnt werden.
Die vollen Konten erlaubten dem neuen Präsidenten auch eine globale Omnipräsenz. Vor allem in Asien und Afrika nahm Kremlev in den zurückliegenden zwei Jahren viele Termine wahr und versprach viel Unterstützung. Besuche, die ihm in diesen Regionen wohl so einige Loyalitäten gesichert haben dürften.
Das IOC hatte die finanziell desolate Situation der AIBA zwar immer als eines der gravierenden Probleme des Verbandes kritisiert (neben eklatanten Mängeln in Grundsätzen einer guten Verbandsführung und mittlerweile bestätigten manipulierten Kampfrichterleistungen), vermochte aber in dem neuen Reichtum nicht die gewünschte Unabhängigkeit eines solide geführten Sportverbandes erkennen.
IOC sorgt sich um russischen Einfluss in der IBA
Im Gegenteil: Beim IOC wuchs die Sorge, dass der Boxverband unter russischer Führung und finanziert von russischem Staatsgeld komplett zum Instrument russischer Politik werde – brisant angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine.
Die Vorgänge rund um zurückliegende Wahlen (dem Niederländer Boris van der Vorst wurde im Mai die Kandidatur zum Präsidenten verboten und ein Urteil des internationalen Sportgerichtshofs CAS, das van der Voorst in dieser Sache recht gab, wurde trickreich umgangen) sowie die kürzliche Entscheidung der IBA, aus der Linie des IOC auszuscheren und russische und belarussische Sportler und Funktionäre wieder uneingeschränkt zu ihren Wettbewerben zuzulassen, dürften die Bedenken des IOC massiv verstärkt haben.
Ist IBA überhaupt noch an den Olympischen Spielen interessiert?
Mittlerweile mehren sich die Zeichen, dass die IBA den Bruch mit dem IOC und den Verlust des Status als olympische Sportart bewusst in Kauf nimmt, wenn nicht gar provoziert. Und tatsächlich ist im Grunde nicht mehr recht vorstellbar, wie das IOC und die IBA noch einmal zusammenfinden könnten. Dafür ist wahrscheinlich mittlerweile zu viel Porzellan zerschlagen worden.
Zuletzt konnte man Stellungnahmen des IOC sogar als leise Ermutigung zur Gründung eines neuen Weltboxverbandes interpretieren. In der Tat scheinen sich einige Dutzend nationale Boxverbände aktuell über ein solches Vorhaben zu beraten – und dabei womöglich schon ein gutes Stück weit voran gekommen zu sein. Es sind dies im Moment vor allem noch Verbände aus solchen Staaten, in denen die Finanzierung des Boxsports stark von seinem Status als olympische Sportart abhängt.
Für einen neu gegründeten Verband, möchte man meinen, wäre es wohl ideal gewesen, wenn Boxen in Paris 2024 noch einmal unter der Regie des IOC im Programm bliebe. Dies hätte den Status als olympische Sportart vorerst aufrecht erhalten, aber dem neuen Verband Zeit gegeben, sich zu etablieren.
Denn wenn es ihm in den kommenden Jahren gelänge, das IOC durch seriöses Agieren und wachsende Mitgliederzahlen von sich zu überzeugen, so könnte das IOC vielleicht erwägen, Boxen bei den übernächsten Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles wieder ins Programm zu nehmen (denn aktuell gilt noch, dass es im vorläufig festgelegten Programm nicht mehr vertreten ist) – am besten dann gleich unter Mitwirkung des neuen Verbandes.
Drohung des IOC kommt zur Unzeit
Die nun ausgesprochene Drohung des IOC, Boxen womöglich schon 2024 in Paris aus dem Programm zu nehmen, bringt eine ungute Dynamik in die Entwicklung der Dinge.
Es stellt sich die Frage, warum das IOC diese Drohung eigentlich ausspricht. Denn im Grunde bestand dazu keine Notwendigkeit. Mit seiner Entscheidung aus dem Sommer, an der Suspendierung der IBA festzuhalten, aber Boxen auch 2024 noch im Programm zu belassen, war sichergestellt, dass das IOC und die Olympischen Spiele (wie schon zuvor in Tokio) eine hinreichende hygienische Distanz zum ungeliebten Boxverband würden einhalten können. Ja, das IOC hätte sogar die IBA 2023 oder 2024 vollends ausschließen können und Boxen dennoch im Programm der Spiele belassen können – denn auch der Qualifikationsweg über kontinentale Multisport-Veranstaltungen wurde abermals vollends von der IBA entkoppelt.
Sollte das IOC mit der Drohung bewirken wollen, dass sich nationale Boxverbände endlich zur Neugründung eines Verbandes entschließen bzw. dass sich mehr nationale Boxverbände einer Neugründung anschließen? Eine solche Strategie ergäbe wenig Sinn, denn es ist kaum zu erwarten, dass ein neu gegründeter Boxverband bereits 2024 in Paris bei einem olympischen Boxturnier verantwortlich involviert sein könnte.
Streichung aus dem Programm dürfte neuem Verband den Start erschweren
Im Gegenteil: Würde Boxen schon in Paris aus dem Programm genommen, also seinen olympischen Status verlieren, so erscheint wenig realistisch, dass es 2028 wieder Teil der Spiele in Los Angeles werden könnte.
Ohne olympische Perspektive verlöre ein neu gegründeter Verband aber viel von seiner Anziehungskraft. Boxen nun aus dem Programm der kommenden Spiele zu streichen, würde also nicht der IBA schaden, die sich sowieso von der olympischen Perspektive zu verabschieden scheint, sondern vielmehr den reformbereiten Kräften, die sich gerade zu organisieren beginnen, hierfür aber dringend gute Argumente benötigen, warum sich nationale Boxverbände einem neuen Weltverband anschließen sollen. Die Aussicht auf eine Teilnahme bei den Olympischen Spielen wäre in diesem Zusammenhang wohl ein sehr kräftiges Argument.