
Im chinesischen Xiamen wollte das Exekutivkomitee des Weltverbandes des olympischen Boxens AIBA mit Blick auf den bevorstehenden Weltkongress im März 2020 am vergangenen Donnerstag eigentlich wichtige Entscheidungen treffen.
Auf der Agenda standen unter anderem die Satzungsreform, über die im März im schweizerischen Lausanne abgestimmt werden sollte. Doch das Projekt droht – kaum erst angeschoben – nun schon steckenzubleiben.
Beschlussfähigkeit des Exekutivkomitees offenbar nicht erreicht
Wie zu hören ist, war das Exekutivkomitee bei seinem Treffen in China nicht beschlussfähig. Hierfür hätten laut Satzung der AIBA mindestens 15 der 28 Mitglieder anwesend sein müssen. Offenbar wurde dies nicht erreicht.
Die Reform der Satzung gilt als wichtiges Signal an das Internationale Olympische Komitee (IOC). Das IOC hatte dem Weltverband des olympischen Boxens zuletzt die Zuständigkeit für die bevorstehenden Olympischen Spiele in Tokio 2020 entzogen.
Auslöser dieses beispiellosen Vorgangs war eine wachsende Kritik des IOC an der AIBA wegen schlechter Kampfrichterleistungen in Rio 2016, wegen der Überschuldung des Verbandes und wegen Verstößen gegen die Grundsätze einer guten Verbandsführung.
Die Auseinandersetzung eskalierte vollends, als der Weltkongress der AIBA schließlich einen Mann zum Präsidenten wählte, der von vielen Seiten mit der organisierten Kriminalität in Verbindung gebracht wurde.
Die AIBA führte sich mit diesen Entscheidungen in die schwerste und existenziellste Krise ihrer Geschichte. Von den Geldflüssen des IOC abgeschnitten, taumelt der Verband inzwischen finanziell am Rande des Abgrundes.
Auch sportlich verlor der Verband an Bedeutung: Die diesjährigen Weltmeisterschaften der AIBA hatten zum ersten Mal keine Bedeutung mehr für die Olympiaqualifikation: Das IOC richtet stattdessen nun weltweit eigene Qualifikationsturniere aus.

Reform der Satzung und andere wichtige Themen konnten nicht offiziell weitergebracht werden
Andere wichtige Themen konnten wegen der fehlenden Beschlussfähigkeit in China ebenfalls nicht entscheidend weitergebracht werden: So sollte auch über Vorschläge der neu eingerichteten Kommission für Marketing beraten werden, die dem klammen Verband neue Einnahmen erschließen sollten.
Unklar ist zudem auch, wie nun der Weltkongress im März zu einem Erfolg gebracht werden soll. Die neue Satzung, über die dort abgestimmt werden soll, konnte jetzt in China nicht offiziell behandelt werden.
Eine erneute Verschiebung des Weltkongresses ist aber eigentlich nicht mehr möglich, da nach dann einjähriger Interimspräsidentschaft des Marokkaners Mohamed Moustahsane zwingend ein neuer, regulärer Präsident ins Amt gewählt werden muss.
Zwei Weltkongresse in kurzer Folge hintereinander (der erste für die Wahl, der zweite für den Beschluss wichtiger Reform-Projekte) würden aber nicht nur ein desaströses Bild abgeben, sondern den Verband womöglich auch finanziell überfordern.
Kommentar von Ralf Elfering
Dilettanten am Werk
Eine überzeugende und überzeugend durchgeführte Reform der Satzung wäre vor dem Hintergrund der aktuellen Lage ein erstes wichtiges Zeichen in Richtung des IOC dafür gewesen, dass der Verband einen neuen Kurs steckt und auf ihm voran kommt.
Sie hätte der Startpunkt für eine Entwicklung sein können, die wieder zurück in den Kreis der olympischen Sportverbände führen könnte – mit der Aussicht, dass eine reformierte AIBA bei den übernächsten Olympischen Spielen in Paris 2024 wieder das Boxen vertreten darf.
Nun droht nachgerade die gegenteilige Wirkung: Die Reform bleibt anscheinend stecken, weil nicht genügend Mitglieder des Exekutivkomitees zu einem wichtigen Treffen erscheinen. Das wird auch das IOC zur Kenntnis nehmen und in die Beurteilung der Reformfähigkeit des Verbandes einfließen lassen.
Wer im Organisationszusammenhang der AIBA seriösen Sport betreibt, kann sich nur verwundert die Augen reiben: Wie kommuniziert das Exekutivkomitee der AIBA eigentlich untereinander, wenn man erst in China überrascht die fehlende Beschlussfähigkeit feststellen muss? Pardon, aber das bekommt der Angelverein um die Ecke besser hin.
Der Weltkongress der AIBA im März ist unausweichlich, weil die Amtszeit des Interimspräsidenten nach 365 Tagen zwingend ausläuft und die Position durch reguläre Wahl besetzt werden muss.
- Findet er nicht statt, würde die AIBA weitere Beweise für eine schlechte Verbandsführung liefern.
- Findet er statt, aber ohne dass auf ihm tatsächlich Reformprojekte beschlossen werden, würde die AIBA weitere Beweise ihrer Reformunfähigkeit liefern.
In diese Zwickmühle hat sich die AIBA selbst gebracht. Nun weiß man allerdings, dass Vereine, Verbände und politische Parteien auf allen Ebenen Biotope der Missgunst, des Neides, der Eigeninteressen, des Narzissmus und der denkbar größten Fraktionierungen und der schlimmsten Verfeindungen sein können.
Sie können manchmal, wo erst einmal ein bestimmter Punkt überschritten ist, schlichtweg nicht mehr in geordnete Verhältnisse zurückgebracht werden. Daher ist – zumal als Beobachter von Außen, der viele Details nicht kennt – Vorsicht angeraten, einzelne Personen zu kritisieren.
An der Gesamtschau der Dinge ändert die gebotene diplomatische Zurückhaltung jedoch nichts: Ein olympischer Spitzensportverband, der seinen Platz am Tisch des IOC verliert und dem die Zuständigkeit für den eigentlich von ihm vertretenen Sport bei den Olympischen Spielen entzogen wird, setzt die Frage seiner Legitimation selbst ganz oben auf die Tagesordnung. Er kann sie nur erhalten, wenn er innerhalb kürzest möglicher Zeit diese beiden gravierenden, ja existenzbedrohenden Probleme aus der Welt schafft.
Angesichts der langen Planungszeiträume olympischer Zyklen und der unrühmlichen Vorgeschichte des Konfliktes bleibt der AIBA allerdings nicht mehr allzu viel Zeit, ihre Dinge nun endlich einmal mit Überzeugung und wirksam neu zu ordnen – wenn sie nicht sowieso vorher schon ökonomischen Schiffbruch erleidet. Die Geduld des IOC ist endlich. Die Leidensbereitschaft der Sportler überdies womöglich auch.
Sehr fraglich ist außerdem, ob das IOC ein zweites Mal als Ausrichter des olympischen Boxturniers und seiner Qualifikationswettbewerbe einspringen würde. Denkbar erscheint eher, dass das Boxen aus dem Programm geworfen wird. Die Folgen für den Sport wären unabsehbar und würden bis auf die untersten Ebenen durchschlagen. Man kann aber nicht sagen, dass wir nicht auf allen Ebenen gewarnt gewesen wären.