Ein »Kor­re­spon­den­ten­be­richt« vom Boxen in Cos­ta Rica

Olivia Adrian erzählt von ihren Erfahrungen in San José

Durch das Training in ihrem neuen Boxclub hat Olivia (mitte vorne) schnell Anschluss gefunden.

Im Som­mer 2017 ging unser Mit­glied Oli­via Adri­an für ein Aus­lands­jahr nach Cos­ta Rica – und such­te sich dort einen Box­club. Das erwies sich als eine gute Idee. Die Ver­bin­dung zum FC St. Pau­li riss in die­ser Zeit nicht ab. So erhiel­ten wir nun die­sen inter­es­san­ten Bericht. Er zeigt, dass man über den Sport schnell Kon­tak­te knüp­fen kann. Eine Erfah­rung, die aktu­ell bei uns ja auch vie­le Mit­glie­der machen, die als Geflüch­te­te nach Deutsch­land kamen. Aber lest Oli­vi­as Bericht selbst.


Von St. Pau­li nach Cos­ta Rica

Ein Erfah­rungs­be­richt von Oli­via Adrian

Schau­keln­de Sand­sä­cke, auf­pral­len­de Box­schlä­ge und das Quiet­schen von Schuh­soh­len – die guten alten Box­klän­ge umschal­len mich und ich füh­le mich irgend­wie ein biss­chen zu Hau­se. Dabei ist »zu Hau­se« im Moment gute 9400 Kilo­me­ter von mir entfernt.

Ich befin­de mich in mei­nem Aus­lands­jahr in Cos­ta Rica, auf das ich mich im Juli letz­ten Jah­res auf­ge­macht habe. Um ein Jahr lang in einer Gast­fa­mi­lie lebend in eine frem­de Kul­tur ein­zu­tau­chen, Erfah­run­gen zu sam­meln, Spa­nisch zu ler­nen und eine unver­gess­li­che Zeit zu haben.

Inzwi­schen ist es schon mehr als ein hal­bes Jahr her, dass ich dafür schwe­ren Her­zens den FC St. Pau­li ver­las­sen muss­te und ich erin­ne­re mich noch sehr gut an mein letz­tes Trai­ning und dar­an, wie ich mich von Ralf ver­ab­schie­de­te und ihm ver­si­cher­te, mir hier in Cos­ta Rica für die Zeit einen neu­en Box­ver­ein zu suchen. Mei­nen Kof­fer pack­te ich etli­che Male um, bis mei­ne gelieb­ten Box­hand­schu­he end­lich rein­pass­ten und sie die lan­ge Rei­se mit mir hier­her machen konnten.

Und jetzt ste­he ich tat­säch­lich hier in der Box­sport­hal­le des »Desam­pa­ra­dos«, dem Sport­club des gleich­na­mi­gen inter­es­san­ten, aber nicht ganz unge­fähr­li­chen Stadt­teil San Josés, der Haupt­stadt Cos­ta Ricas. Ich kann es kaum fas­sen, dass mei­ne Gast­mut­ter durch Face­book auf die­sen nahe­ge­le­ge­nen Box­club gesto­ßen ist, der sich nicht nur genau auf mei­ne Alters­grup­pe fokus­siert son­dern durch die staat­li­che Unter­stüt­zung auch noch kom­plett kos­ten­los ist. Und ich darf sogar direkt spon­tan mittrainieren.

Mein Pro­be­trai­ning

Das ers­te Trai­ning ist hart – auf dem Trai­nings­plan steht neben dem regu­lä­ren Auf­wär­men eine gro­ße Lauf­run­de durch das hal­be Vier­tel, drei Mal wöchent­lich Zir­kel­trai­ning, zwei Mal wöchent­lich Spar­ring und jedes Trai­ning wird mit ein paar Run­den inten­si­ver Sand­sack­ar­beit und meh­re­ren Hun­dert Sit-ups abge­schlos­sen. Ich mer­ke schnell, dass hier ein har­ter Wind weht. Vor allem aus der Rich­tung Kraft und Aus­dau­er. Und nach gut einem hal­ben Jahr Trai­nings­pau­se bringt mich das gan­ze ziem­lich stark an mei­ne Grenzen.

Die här­tes­te Umstel­lung mer­ke ich dann aber weni­ge Tage drauf bei mei­nem ers­ten Spar­ring. Kaum wird die ers­te Run­de ange­pfif­fen, wird mir klar, dass Spar­ring in ver­schie­de­nen (Box-) Kul­tu­ren durch­aus unter­schied­lich inter­pre­tiert wer­den kann. Der oder die Spar­rings­part­ne­rIn wird mit jeder Run­de gewech­selt und das gan­ze läuft ziem­lich Wett­kampfsnah ab: hohe Geschwin­dig­keit, hohe Schlag­kraft, hohe Agres­si­vi­tät – und wenig Rücksicht. 

Nach mei­nem aller­ers­ten Spar­ring sit­ze ich also ein wenig über­for­dert und von meh­re­ren hoch­über­le­ge­nen Spar­rings­part­ne­rin­nen ziem­lich zusam­men­ge­schla­gen am Ring und fra­ge mich, ob ich hier wirk­lich rich­tig am Platz bin oder die­ser har­te Wech­sel zwi­schen den bei­den Box­kul­tu­ren nicht doch ein biss­chen zu viel für mich ist.

Der Box­club »Desam­pa­ra­dos« in San José, in dem Oli­via nun schon seit eini­gen Mona­ten trainiert.
Ein Blick in die Trai­nings­hal­le: Im Hin­ter­grund der Boxring.

Hart­nä­ckig­keit ist alles

Glück­li­cher­wei­se habe ich wei­ter­ge­macht und kann jetzt, drei Mona­te spä­ter sagen, dass der Ein­tritt in den Box­klub nahe­zu die bes­te Ent­schei­dung war, die ich in die­sem Aus­lands­jahr getrof­fen habe und dass ich hier doch genau rich­tig bin.

Seit­dem gehe ich fünf Tage die Woche zum Trai­ning, habe hier mei­ne bes­ten Freund­schaf­ten geschlos­sen, mit rie­si­gen Tor­ten­schlach­ten die Geburts­ta­ge mei­ner Trai­ner gefei­ert, etli­che Wochen­en­den mit mei­nen Team und unse­ren drei Trai­nern mei­ne Freun­de auf Box­ver­an­stal­tun­gen unter­stützt und unglaub­lich viel Zeit in die­sem – ver­gli­chen mit der Zeug­haus­markt­hal­le sehr klei­nen – Gym ver­bracht, das inzwi­schen tat­säch­lich so etwas wie mein zwei­tes zu Hau­se ist. Ab und zu rufen uns unse­re Trai­ner zu Bespre­chun­gen zusam­men, in denen sie uns klei­ne Vor­trä­ge zu The­men wie Dis­zi­plin, Ernäh­rung und Koor­di­na­ti­on von Trai­ning und Schu­le hal­ten, uns moti­vie­ren und ver­su­chen, uns an ihren Bei­spie­len klar zu machen, wie weit wir es mit dem Boxen schaf­fen können. 

Und im Spar­ring läuft es inzwi­schen auch bes­ser. Selbst­be­wuss­ter bin ich dadurch jeden­falls schon gewor­den. Und außer­dem ist mir auf­ge­fal­len, dass ich hier mit mei­nen 1,62m ziem­lich groß bin und so auch end­lich mal in den Genuss des Reich­wei­ten­vor­teils kom­me. Nach kur­zer Zeit haben mei­ne Trai­ner in mei­nem Box­stil auch eine soli­de Tech­nik und Schnel­lig­keit erkannt, die ich vom FC St. Pau­li mit­ge­bracht hat­te und für die ich dann doch auch immer öfter gutes Feed­back bekam – ein indi­rek­tes Kom­pli­ment also für unse­ren Verein.

Boxen als Brü­cke zwi­schen den Kulturen

Mit der Zeit ist mir auf­ge­fal­len, wie inter­es­sant und berei­chernd es ist, durch eine ande­re Kul­tur den Box­sport neu ken­nen­zu­ler­nen – und gleich­zei­tig durch den Box­sport eine neue Kul­tur. Anstatt durch Deutschrap wer­den wir wäh­rend des gesam­ten Trai­nings mit einer Mischung aus Lati­no-Trap, Rock, Reg­gae und Reg­gae­ton beglei­tet, alles fin­det auf Spa­nisch statt – Schlä­ge wer­den zu »gol­pes« und haben Namen wie »gancho« oder »rec­ta«. So ver­schwitzt man auch sein mag – es wird sich immer mit einem Wan­gen­küss­chen begrüßt und verabschiedet. 

Bringt der Zufalls­mix einen guten Song, sind spon­ta­ne Mini-Tanz­ein­la­gen kei­ne Sel­ten­heit, bei denen sich auch ger­ne mal einer der Trai­ner jeman­den schnappt, um ein paar Schrit­te hüft­schwin­gend zu tan­zen. Und gene­rell bleibt die Gesamt­at­mo­sphä­re trotz hoher Anfor­de­run­gen, Dis­zi­plin und Här­te immer locker, freund­schaft­lich und ganz nach dem cos­t­ar­ca­ni­schen Mot­to »Pira Vida« (= pures Leben) voll­kom­men fröh­lich, herz­lich und offen.

Das Team des Box­clubs »Desam­pa­ra­dos«, in dem Oli­via trainiert.

Hun­ger nach Erfolg

Mein Team besteht aus mehr als 100 Boxern und Boxe­rin­nen, die meis­ten sind zwi­schen 15 und 18 Jah­re alt und nahe­zu alle meh­men an Kämp­fen teil, vie­le haben sich in den letz­ten Wochen für die Natio­nal­meis­ter­schaft im Juli qua­li­fi­ziert. Der Jüngs­te mei­ner drei Trai­ner, Robin­son Rodrí­guez, war selbst noch vor weni­gen Jah­ren Schü­ler, jetzt ist er 23, Trai­ner und sehr erfolg­reich – im August ver­trat er sogar Cos­ta Rica bei der Box WM bei euch drü­ben in Ham­burg (49 Kilo). 

Er sagt, der Box­sport sei der Sport der Armen. Als er noch Schü­ler war, bezahl­ten ihm mei­ne bei­den ande­ren Trai­ner die Bus­fahr­kar­ten zum Trai­ning, da er sie nicht bezah­len konn­te und sei­ne Box­kar­rie­re sonst mög­li­cher­wei­se dar­an geschei­tert wäre. Für mei­ne Freun­de hat er eine gewis­se Vor­bild­funk­ti­on, vie­le iden­ti­fi­zie­ren sich mit ihm. Unser Vier­tel ist nicht gera­de wohl­ha­bend und wenn mir mei­ne Freun­de von ihren Leben erzäh­len – Armut, Arbeits­lo­sig­keit der Eltern, Fami­li­en­dra­men – wird mir der Traum eini­ger, durch das Boxen aus all­dem auf eine gewis­se Wei­se her­aus­zu­kom­men und wie mei­ne Trai­ner mit dem Geld zu ver­die­nen, was sie lie­ben, recht verständlich.

Viel­leicht ist die­ser Hun­ger nach Erfolg ein Grund dafür, dass unser Team, das noch gar nicht so lan­ge besteht, so erfolg­reich ist. Und von die­sem Ehr­geiz habe ich mich irgend­wie anste­cken las­sen. Mei­ne Trai­ner orga­ni­sie­ren mir mei­nen ers­ten Kampf in weni­gen Wochen, damit ich die­se Erfah­rung von hier mit­neh­men kann. Also heißt es ab jetzt, durch­zie­hen.

Oli­via im Tri­kot ihres Box­clubs in Cos­ta Rica.

Ein Blick zurück und zwei nach vorn

Und jetzt sit­ze ich im Bus nach Hau­se, erschöpft vom Spar­ring, aber glück­lich. Und ich den­ke über die letz­ten Mona­te nach, dar­über, dass es sich manch­mal lohnt, hart­nä­ckig zu blei­ben. Und dar­über was ich alles mit­neh­me aus die­ser Zeit, dass es kei­ne bes­se­ren oder schlech­te­ren Kul­tu­ren gibt, nur unter­schied­li­che. Und dar­über, wie sehr es mich berei­chert hat, ein­mal fremd in einem Land zu sein. Und ich den­ke über die nächs­te Zeit nach, mei­nen ers­ten Wett­kampf und dar­über, wie sehr ich mich dar­auf freue, im August dann wie­der beim FC St. Pau­li ein­zu­stei­gen. Denn auch, wenn ich mich dann von Strand, Pal­men und mei­nem Team ver­ab­schie­den muss, freue ich mich unglaub­lich auf euch und dar­auf, wie­der Teil des FCSP zu sein.

Die Spon­so­ren der Box­ab­tei­lung des FC St. Pauli: