
In den Jahren 2015 und 2016 erreichten rund 2,5 Millionen Geflüchtete die Staaten der Europäischen Union, darunter eine große Zahl unbegleiteter Minderjähriger. Zu den Gründen der Flucht nach Europa gehörten vor allem der Bürgerkrieg in Syrien, das Vorrücken der Taliban in Afghanistan sowie die Gewaltherrschaft der Terrororganisation »Islamischer Staat« im Irak und in Syrien.
Fluchtbewegungen im Jahr 2015
Allein in Deutschland wurden in diesen beiden Jahren etwa 1,2 Millionen Anträge auf Asyl gestellt. Viele Kommunen stellte die große Zahl von Geflüchteten vor immense logistische Probleme. Eine Unterbringung war oft nur improvisiert möglich: An vielen Stellen entstanden Zeltlager und Containerdörfer. Auch viele Sporthallen und andere öffentliche Gebäude mussten zeitweise zu Unterkünften umfunktioniert werden. Es braucht wenig Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass dies für Geflüchtete keine idealen Lebensbedingungen waren.
Gründung des Geflüchtetenprojekts
In dieser Situation wollte die Boxabteilung im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen kleinen Beitrag zur Integration der Geflüchteten leisten. Sie beschloss daher den Start ihres »Geflüchtetenprojekts«. Kern dieses Projekts ist, dass Geflüchtete unter bestimmten Voraussetzungen kostenlos am Training der Boxabteilung teilnehmen können – als gleichberechtigte Mitglieder der Abteilung und damit auch des Vereins.
2015 konnte man bei Gründung des Geflüchtetenprojekts vielleicht an einen begrenzten Zeitraum von zwei oder drei Jahren denken, in dem die Boxabteilung mit diesem Angebot zur Integration der Geflüchteten beitragen würde. Doch es kam anders.
Die Welt wurde seitdem nicht besser
Die Anzahl von Kriegen und Bürgerkriegen in der Welt hat in den letzten 10 Jahren leider nicht abgenommen. Im Gegenteil: In immer mehr Ländern der Welt etablieren sich autoritäre Strukturen. Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind auf allen Kontinenten unter einen starken Druck geraten. Menschen werden – wahrscheinlich mehr denn je – wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft, ihrer Religion oder Nicht-Religion, ihres Eintretens für Freiheits- und Menschenrechte, wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Identität an vielen Orten der Welt bedrängt und verfolgt. Oder sie haben kaum eine Aussicht auf ein Leben in Frieden und ohne Armut – nicht selten als direkte oder indirekte Spätfolge der Kolonisation oder des immer spürbarer werdenden Klimawandels.

Jede Woche neue Anfragen
Daher haben viele Menschen an vielen Orten der Welt unverändert einen Anlass zur Flucht. Auch zehn Jahre nach dem Start des Geflüchtetenprojekts erreichen die Boxabteilung so gut wie jede Woche Anfragen nach einem Probetraining im Rahmen dieses Angebots. In vielen Fällen stellen Sozialarbeiter*innen von Wohnunterkünften den Kontakt her, in anderen Fällen sind es Freunde und Bekannte von Mitgliedern, die bereits über das Projekt zu uns gefunden haben. An ein Ende des Projekts ist daher nicht zu denken. Vielmehr ist es inzwischen längst zu einem Kern der Boxabteilung geworden.
Ganz am Anfang gab es für kurze Zeit die Idee, dass bestehende Mitglieder im Rahmen einer »Mitgliedspatenschaft« die Beiträge für Geflüchtete übernehmen könnten. Der Gedanke dahinter war, dass dies bestehende Mitglieder und neue, geflüchtete Mitglieder miteinander in einen Kontakt bringen würde, der im besten Fall auch Unterstützung und Rat in anderen Bereichen ermöglichen würde.
Vollmitgliedschaft statt Patenmodell
Doch diese Idee verfolgte man letztlich nicht. Es hätte zum einen bedeutet, dass man für jeden dauerhaft am Training interessierten Geflüchteten vor der Aufnahme in die Boxabteilung erst einen Paten oder eine Patin hätte finden müssen. Dies wäre sicherlich mit der Zeit zu einem anstrengenden Thema geworden. Zum anderen hätte es direkte persönliche Abhängigkeiten zwischen den Geflüchteten und den Paten geschaffen. Was wäre denn etwa die Folge, wenn ein Pate oder eine Patin aus dem Verein ausgetreten wäre? Hätte ein geflüchtetes Mitglied in diesem Fall etwa nur dann bleiben können, wenn ein neuer Pate oder eine neue Patin gefunden werden kann? Undenkbar! Wer als Geflüchteter oder Geflüchtete neu nach Deutschland kommt, muss zunächst viel Fremdbestimmung hinnehmen (etwa was Wohnort und Wohnverhältnisse betrifft). Da wäre es mehr als unpassend gewesen, ausgerechnet im Rahmen des Geflüchtetenprojekts ein weiteres Abhängigkeits- oder womöglich gar gefühltes Dankverhältnis zu etablieren.
Eine gleichberechtigte und abgesicherte Teilhabe am Angebot der Boxabteilung wäre auf der Grundlage von Patenschaften also kaum möglich gewesen. Zu guter Letzt wäre die ganze Sache in dieser Form auch gar kein wirkliches Angebot und Projekt der Boxabteilung gewesen – denn es wäre ja finanziell von den Paten und Patinnen getragen worden, nicht aber von der Gemeinschaft und Institution der Abteilung an sich. Daher wählte man einen anderen Ansatz. Auf einer Abteilungsversammlung beschloss man 2015 einstimmig, Geflüchtete unter bestimmten Bedingungen als ganz reguläre Mitglieder (also ohne Patenschaft) in die Boxabteilung aufzunehmen, aber von den Mitgliedsbeiträgen freizustellen. So wurde es erst zu einem Projekt der Abteilung und vermied darüber hinaus direkte Abhängigkeiten.
Zunächst galt: Zehn Prozent aller Mitglieder der Boxabteilung sollten in diesem Rahmen von den Beiträgen befreit werden können. Auf einer späteren Abteilungsversammlung erhöhte man den Prozentsatz schließlich einstimmig auf die heute noch geltenden 15 Prozent. Eine Begrenzung erschien und erscheint grundsätzlich angeraten, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Abteilung zu gewährleisten. Denn die sporttreibenden Abteilungen des FC St. Pauli müssen ihren Trainings- und Wettkampfbetrieb ausschließlich aus eigenen Mitteln bestreiten – und dazu gehören in erster Line eben die Einnahmen aus den Mitgliedsbeiträgen.
Eine kleine Hilfe beim Ankommen
Die Bedingungen für eine Mitgliedschaft im Geflüchtetenprojekt waren und sind bis heute im Kern simpel:
- Die betreffenden Mitglieder müssen das Angebot wenigstens einigermaßen regelmäßig nutzen. So soll verhindert werden, dass über die Monate und Jahre hinweg »Karteileichen« die 15 Prozent füllen – und neue Interessierte, die das Angebot hingegen wirklich nutzen möchten, abgewiesen werden müssen. Außerdem zahlt die Abteilung auch für beitragsbefreite Mitglieder eine monatliche Verwaltungskostenpauschale an den Verein, die für »Karteileichen« natürlich herausgeworfenes Geld wäre. Das heißt natürlich nicht, dass Geflüchtete jede Woche zum Training kommen müssen. Wer aber monatelang ohne jede Information nicht mehr zu sehen ist, der verliert den Anspruch auf einen Platz im Projekt.
- Das kostenlose Trainingsangebot endet außerdem irgendwann mit wachsender Integration. Zeichen einer solchen wachsenden Integration sind vor allem ein regelmäßiges, relevantes, eigenes Einkommen, sichere Aufenthaltstitel oder gar der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Aber auch Schulabschlüsse, Berufsausbildungen, Berufstätigkeiten und der Bezug von eigenem Wohnraum sind solche Zeichen. Oft hängen diese Dinge rechtlich und zeitlich auch zusammen. Wer aus diesen erfreulichen Gründen seinen Anspruch auf einen Platz im Geflüchtetenprojekt verliert, muss natürlich nicht die Boxabteilung verlassen. Aber er oder sie muss von der kostenlosen Mitgliedschaft in eine normale Mitgliedschaft wechseln.
Mit dem Geflüchtetenprojekt hat sich in der Boxabteilung einiges geändert. Man kann inzwischen bilanzieren: Diese Veränderungen haben die Boxabteilung durchweg bereichert und weiterentwickelt. Die Mitgliederstruktur, vor allem aber die Struktur der Trainingsgruppen, wurde deutlich diverser (2015 war »Diversität« in allerdings noch kein so weit verbreiteter Begriff).
Die Boxabteilung wurde diverser
Wo früher weiße, deutsche und männliche Mittelschicht dominierte (was auch immer »Mittelschicht« heißen mag), ist inzwischen sehr viel mehr Vielfalt entstanden. Verschiedene Alter, verschiedene Herkünfte, verschiedene Sprachen, verschiedene Kulturen, verschiedene Haut‑, Haar- und Augenfarben und verschiedene Religionen haben in der Trainingshalle Einzug gehalten. Der Überhang an männlichen Sportlern ist allerdings geblieben. Ihn teilt die Boxabteilung mit den meisten Boxsportvereinen, in denen leistungsorientiert trainiert wird.
Bei aller Veränderung blieb jedoch eines gleich: Ein wertschätzendes, empathisches und solidarisches Miteinander wird von allen geschätzt und gemeinsam getragen. Es ist erkennbar die Grundlage und der Rahmen der gemeinsamen sportlichen Trainingsarbeit.
In der Öffentlichkeit wird ein Boxverein vielleicht am sichtbarsten durch die Wettkämpfer im Ring vertreten. In zweiter Linie durch die Trainer am Ring und beim Training in der Halle. Längst repräsentieren Geflüchtete die Abteilung und – damit zugleich ein Stück weit auch den ganzen FC St. Pauli – auch in diesen beiden Bereichen. Sie sind damit so sehr im Kern der Abteilung angelangt, dass die Bezeichnung »Geflüchtete« spätestens in diesen Fällen in vielerlei Hinsicht seltsam unpassend wirkt, da der Begriff ein »Hinzukommen« assoziiert, das doch an dieser Stelle vollzogen erscheint.
Kleine Alltagsutopie
»Für mich bedeutet das Geflüchtetenprojekt eine Art von gelebter Utopie im kleinen Maßstab, ein Labor der positiven Erfahrungen«, erklärt Ralf Elfering, leitender Trainer in der Boxabteilung. »Während überall in der Welt Abwertung, Ausgrenzung, Hass und Hetze zunehmen, zeigt es doch, dass die Menschen im Grunde genommen friedlich und wertschätzend miteinander leben wollen – und auch können. Es sind die autoritären Ideologien, die den Menschen ihre eigentlichen Bedürfnisse vergessen machen. Wenn die Boxabteilung hier einen Erfahrungsraum schafft, der anders ist und dabei noch eine solide sportliche Arbeit macht, ist das die Utopie, die ich meine.«