2015 – 2025: Ein Rück­blick und ein Zwi­schen­fa­zit nach 10 Jah­ren Geflüchtetenprojekt

Projekt wurde zu einem Kern der Boxabteilung

In den Jah­ren 2015 und 2016 erreich­ten rund 2,5 Mil­lio­nen Geflüch­te­te die Staa­ten der Euro­päi­schen Uni­on, dar­un­ter eine gro­ße Zahl unbe­glei­te­ter Min­der­jäh­ri­ger. Zu den Grün­den der Flucht nach Euro­pa gehör­ten vor allem der Bür­ger­krieg in Syri­en, das Vor­rü­cken der Tali­ban in Afgha­ni­stan sowie die Gewalt­herr­schaft der Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on »Isla­mi­scher Staat« im Irak und in Syrien.

Flucht­be­we­gun­gen im Jahr 2015

Allein in Deutsch­land wur­den in die­sen bei­den Jah­ren etwa 1,2 Mil­lio­nen Anträ­ge auf Asyl gestellt. Vie­le Kom­mu­nen stell­te die gro­ße Zahl von Geflüch­te­ten vor immense logis­ti­sche Pro­ble­me. Eine Unter­brin­gung war oft nur impro­vi­siert mög­lich: An vie­len Stel­len ent­stan­den Zelt­la­ger und Con­tai­ner­dör­fer. Auch vie­le Sport­hal­len und ande­re öffent­li­che Gebäu­de muss­ten zeit­wei­se zu Unter­künf­ten umfunk­tio­niert wer­den. Es braucht wenig Fan­ta­sie, um sich vor­stel­len zu kön­nen, dass dies für Geflüch­te­te kei­ne idea­len Lebens­be­din­gun­gen waren.

Grün­dung des Geflüchtetenprojekts

In die­ser Situa­ti­on woll­te die Box­ab­tei­lung im Rah­men ihrer Mög­lich­kei­ten einen klei­nen Bei­trag zur Inte­gra­ti­on der Geflüch­te­ten leis­ten. Sie beschloss daher den Start ihres »Geflüch­te­ten­pro­jekts«. Kern die­ses Pro­jekts ist, dass Geflüch­te­te unter bestimm­ten Vor­aus­set­zun­gen kos­ten­los am Trai­ning der Box­ab­tei­lung teil­neh­men kön­nen – als gleich­be­rech­tig­te Mit­glie­der der Abtei­lung und damit auch des Vereins.

2015 konn­te man bei Grün­dung des Geflüch­te­ten­pro­jekts viel­leicht an einen begrenz­ten Zeit­raum von zwei oder drei Jah­ren den­ken, in dem die Box­ab­tei­lung mit die­sem Ange­bot zur Inte­gra­ti­on der Geflüch­te­ten bei­tra­gen wür­de. Doch es kam anders.

Die Welt wur­de seit­dem nicht besser

Die Anzahl von Krie­gen und Bür­ger­krie­gen in der Welt hat in den letz­ten 10 Jah­ren lei­der nicht abge­nom­men. Im Gegen­teil: In immer mehr Län­dern der Welt eta­blie­ren sich auto­ri­tä­re Struk­tu­ren. Demo­kra­tie, Frei­heit, Men­schen­rech­te und Rechts­staat­lich­keit sind auf allen Kon­ti­nen­ten unter einen star­ken Druck gera­ten. Men­schen wer­den – wahr­schein­lich mehr denn je – wegen ihrer Haut­far­be, Her­kunft, ihrer Reli­gi­on oder Nicht-Reli­gi­on, ihres Ein­tre­tens für Frei­heits- und Men­schen­rech­te, wegen ihrer sexu­el­len Ori­en­tie­rung oder Iden­ti­tät an vie­len Orten der Welt bedrängt und ver­folgt. Oder sie haben kaum eine Aus­sicht auf ein Leben in Frie­den und ohne Armut – nicht sel­ten als direk­te oder indi­rek­te Spät­fol­ge der Kolo­ni­sa­ti­on oder des immer spür­ba­rer wer­den­den Klimawandels.

Zeltlager für Geflüchtete in Hamburg-Jenfeld im Jahr 2015
Lager für Geflüch­te­te in Ham­burg-Jen­feld im Jahr 2015 (Foto: An‑d, Wiki­pe­dia, CC BY-SA 3.0)

Jede Woche neue Anfragen

Daher haben vie­le Men­schen an vie­len Orten der Welt unver­än­dert einen Anlass zur Flucht. Auch zehn Jah­re nach dem Start des Geflüch­te­ten­pro­jekts errei­chen die Box­ab­tei­lung so gut wie jede Woche Anfra­gen nach einem Pro­be­trai­ning im Rah­men die­ses Ange­bots. In vie­len Fäl­len stel­len Sozialarbeiter*innen von Wohn­un­ter­künf­ten den Kon­takt her, in ande­ren Fäl­len sind es Freun­de und Bekann­te von Mit­glie­dern, die bereits über das Pro­jekt zu uns gefun­den haben. An ein Ende des Pro­jekts ist daher nicht zu den­ken. Viel­mehr ist es inzwi­schen längst zu einem Kern der Box­ab­tei­lung geworden.

Ganz am Anfang gab es für kur­ze Zeit die Idee, dass bestehen­de Mit­glie­der im Rah­men einer »Mit­glied­s­pa­ten­schaft« die Bei­trä­ge für Geflüch­te­te über­neh­men könn­ten. Der Gedan­ke dahin­ter war, dass dies bestehen­de Mit­glie­der und neue, geflüch­te­te Mit­glie­der mit­ein­an­der in einen Kon­takt brin­gen wür­de, der im bes­ten Fall auch Unter­stüt­zung und Rat in ande­ren Berei­chen ermög­li­chen würde.

Voll­mit­glied­schaft statt Patenmodell

Doch die­se Idee ver­folg­te man letzt­lich nicht. Es hät­te zum einen bedeu­tet, dass man für jeden dau­er­haft am Trai­ning inter­es­sier­ten Geflüch­te­ten vor der Auf­nah­me in die Box­ab­tei­lung erst einen Paten oder eine Patin hät­te fin­den müs­sen. Dies wäre sicher­lich mit der Zeit zu einem anstren­gen­den The­ma gewor­den. Zum ande­ren hät­te es direk­te per­sön­li­che Abhän­gig­kei­ten zwi­schen den Geflüch­te­ten und den Paten geschaf­fen. Was wäre denn etwa die Fol­ge, wenn ein Pate oder eine Patin aus dem Ver­ein aus­ge­tre­ten wäre? Hät­te ein geflüch­te­tes Mit­glied in die­sem Fall etwa nur dann blei­ben kön­nen, wenn ein neu­er Pate oder eine neue Patin gefun­den wer­den kann? Undenk­bar! Wer als Geflüch­te­ter oder Geflüch­te­te neu nach Deutsch­land kommt, muss zunächst viel Fremd­be­stim­mung hin­neh­men (etwa was Wohn­ort und Wohn­ver­hält­nis­se betrifft). Da wäre es mehr als unpas­send gewe­sen, aus­ge­rech­net im Rah­men des Geflüch­te­ten­pro­jekts ein wei­te­res Abhän­gig­keits- oder womög­lich gar gefühl­tes Dank­ver­hält­nis zu etablieren.

Eine gleich­be­rech­tig­te und abge­si­cher­te Teil­ha­be am Ange­bot der Box­ab­tei­lung wäre auf der Grund­la­ge von Paten­schaf­ten also kaum mög­lich gewe­sen. Zu guter Letzt wäre die gan­ze Sache in die­ser Form auch gar kein wirk­li­ches Ange­bot und Pro­jekt der Box­ab­tei­lung gewe­sen – denn es wäre ja finan­zi­ell von den Paten und Patin­nen getra­gen wor­den, nicht aber von der Gemein­schaft und Insti­tu­ti­on der Abtei­lung an sich. Daher wähl­te man einen ande­ren Ansatz. Auf einer Abtei­lungs­ver­samm­lung beschloss man 2015 ein­stim­mig, Geflüch­te­te unter bestimm­ten Bedin­gun­gen als ganz regu­lä­re Mit­glie­der (also ohne Paten­schaft) in die Box­ab­tei­lung auf­zu­neh­men, aber von den Mit­glieds­bei­trä­gen frei­zu­stel­len. So wur­de es erst zu einem Pro­jekt der Abtei­lung und ver­mied dar­über hin­aus direk­te Abhängigkeiten.

Zunächst galt: Zehn Pro­zent aller Mit­glie­der der Box­ab­tei­lung soll­ten in die­sem Rah­men von den Bei­trä­gen befreit wer­den kön­nen. Auf einer spä­te­ren Abtei­lungs­ver­samm­lung erhöh­te man den Pro­zent­satz schließ­lich ein­stim­mig auf die heu­te noch gel­ten­den 15 Pro­zent. Eine Begren­zung erschien und erscheint grund­sätz­lich ange­ra­ten, um die wirt­schaft­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit der Abtei­lung zu gewähr­leis­ten. Denn die sport­trei­ben­den Abtei­lun­gen des FC St. Pau­li müs­sen ihren Trai­nings- und Wett­kampf­be­trieb aus­schließ­lich aus eige­nen Mit­teln bestrei­ten – und dazu gehö­ren in ers­ter Line eben die Ein­nah­men aus den Mitgliedsbeiträgen. 

Eine klei­ne Hil­fe beim Ankommen

Die Bedin­gun­gen für eine Mit­glied­schaft im Geflüch­te­ten­pro­jekt waren und sind bis heu­te im Kern simpel: 

  1. Die betref­fen­den Mit­glie­der müs­sen das Ange­bot wenigs­tens eini­ger­ma­ßen regel­mä­ßig nut­zen. So soll ver­hin­dert wer­den, dass über die Mona­te und Jah­re hin­weg »Kar­tei­lei­chen« die 15 Pro­zent fül­len – und neue Inter­es­sier­te, die das Ange­bot hin­ge­gen wirk­lich nut­zen möch­ten, abge­wie­sen wer­den müs­sen. Außer­dem zahlt die Abtei­lung auch für bei­trags­be­frei­te Mit­glie­der eine monat­li­che Ver­wal­tungs­kos­ten­pau­scha­le an den Ver­ein, die für »Kar­tei­lei­chen« natür­lich her­aus­ge­wor­fe­nes Geld wäre. Das heißt natür­lich nicht, dass Geflüch­te­te jede Woche zum Trai­ning kom­men müs­sen. Wer aber mona­te­lang ohne jede Infor­ma­ti­on nicht mehr zu sehen ist, der ver­liert den Anspruch auf einen Platz im Projekt. 
  2. Das kos­ten­lo­se Trai­nings­an­ge­bot endet außer­dem irgend­wann mit wach­sen­der Inte­gra­ti­on. Zei­chen einer sol­chen wach­sen­den Inte­gra­ti­on sind vor allem ein regel­mä­ßi­ges, rele­van­tes, eige­nes Ein­kom­men, siche­re Auf­ent­halts­ti­tel oder gar der Erwerb der deut­schen Staats­bür­ger­schaft. Aber auch Schul­ab­schlüs­se, Berufs­aus­bil­dun­gen, Berufs­tä­tig­kei­ten und der Bezug von eige­nem Wohn­raum sind sol­che Zei­chen. Oft hän­gen die­se Din­ge recht­lich und zeit­lich auch zusam­men. Wer aus die­sen erfreu­li­chen Grün­den sei­nen Anspruch auf einen Platz im Geflüch­te­ten­pro­jekt ver­liert, muss natür­lich nicht die Box­ab­tei­lung ver­las­sen. Aber er oder sie muss von der kos­ten­lo­sen Mit­glied­schaft in eine nor­ma­le Mit­glied­schaft wechseln. 

Mit dem Geflüch­te­ten­pro­jekt hat sich in der Box­ab­tei­lung eini­ges geän­dert. Man kann inzwi­schen bilan­zie­ren: Die­se Ver­än­de­run­gen haben die Box­ab­tei­lung durch­weg berei­chert und wei­ter­ent­wi­ckelt. Die Mit­glie­der­struk­tur, vor allem aber die Struk­tur der Trai­nings­grup­pen, wur­de deut­lich diver­ser (2015 war »Diver­si­tät« in aller­dings noch kein so weit ver­brei­te­ter Begriff). 

Die Box­ab­tei­lung wur­de diverser

Wo frü­her wei­ße, deut­sche und männ­li­che Mit­tel­schicht domi­nier­te (was auch immer »Mit­tel­schicht« hei­ßen mag), ist inzwi­schen sehr viel mehr Viel­falt ent­stan­den. Ver­schie­de­ne Alter, ver­schie­de­ne Her­künf­te, ver­schie­de­ne Spra­chen, ver­schie­de­ne Kul­tu­ren, ver­schie­de­ne Haut‑, Haar- und Augen­far­ben und ver­schie­de­ne Reli­gio­nen haben in der Trai­nings­hal­le Ein­zug gehal­ten. Der Über­hang an männ­li­chen Sport­lern ist aller­dings geblie­ben. Ihn teilt die Box­ab­tei­lung mit den meis­ten Box­sport­ver­ei­nen, in denen leis­tungs­ori­en­tiert trai­niert wird.

Bei aller Ver­än­de­rung blieb jedoch eines gleich: Ein wert­schät­zen­des, empa­thi­sches und soli­da­ri­sches Mit­ein­an­der wird von allen geschätzt und gemein­sam getra­gen. Es ist erkenn­bar die Grund­la­ge und der Rah­men der gemein­sa­men sport­li­chen Trainingsarbeit.

In der Öffent­lich­keit wird ein Box­ver­ein viel­leicht am sicht­bars­ten durch die Wett­kämp­fer im Ring ver­tre­ten. In zwei­ter Linie durch die Trai­ner am Ring und beim Trai­ning in der Hal­le. Längst reprä­sen­tie­ren Geflüch­te­te die Abtei­lung und – damit zugleich ein Stück weit auch den gan­zen FC St. Pau­li – auch in die­sen bei­den Berei­chen. Sie sind damit so sehr im Kern der Abtei­lung ange­langt, dass die Bezeich­nung »Geflüch­te­te« spä­tes­tens in die­sen Fäl­len in vie­ler­lei Hin­sicht selt­sam unpas­send wirkt, da der Begriff ein »Hin­zu­kom­men« asso­zi­iert, das doch an die­ser Stel­le voll­zo­gen erscheint.

Klei­ne Alltagsutopie

»Für mich bedeu­tet das Geflüch­te­ten­pro­jekt eine Art von geleb­ter Uto­pie im klei­nen Maß­stab, ein Labor der posi­ti­ven Erfah­run­gen«, erklärt Ralf Elfe­ring, lei­ten­der Trai­ner in der Box­ab­tei­lung. »Wäh­rend über­all in der Welt Abwer­tung, Aus­gren­zung, Hass und Het­ze zuneh­men, zeigt es doch, dass die Men­schen im Grun­de genom­men fried­lich und wert­schät­zend mit­ein­an­der leben wol­len – und auch kön­nen. Es sind die auto­ri­tä­ren Ideo­lo­gien, die den Men­schen ihre eigent­li­chen Bedürf­nis­se ver­ges­sen machen. Wenn die Box­ab­tei­lung hier einen Erfah­rungs­raum schafft, der anders ist und dabei noch eine soli­de sport­li­che Arbeit macht, ist das die Uto­pie, die ich meine.«


Ein rundes Logo mit dem Text "Love Boxing - Hate Racism"

Die Spon­so­ren der Box­ab­tei­lung des FC St. Pauli: